Leitsatz (amtlich)
›1. Bei der Indikation von Zahnextraktionen ist zwischen der Erhaltungsfähigkeit und der Erhaltungswürdigkeit zu differenzieren.
2. Wird die Erhaltungswürdigkeit von erhaltungsfähigen Zähnen schon bei der ersten Behandlung eines jugendlichen Patienten ausgeschlossen, so entspricht dies nicht gutem zahnärztlichem Standard.
3. Trägt ein jugendlicher Patient infolge der nicht indizierten Entfernung von acht Zähnen eine herausnehmbare Oberkieferprothese, so kann dies die Zubilligung eines Schmerzensgeldes von 30.000,- DM rechtfertigen.‹
Verfahrensgang
LG Bielefeld (Aktenzeichen 4 O 200/98) |
Tatbestand
Die Beklagten betrieben 1995 eine zahnärztliche Gemeinschaftspraxis. Dorthin begab sich am 03.11.1995 der damals 16jährige Kläger in Begleitung seiner Mutter. Der am 15.01.2001 verstorbene Beklagte zu 2) untersuchte den Kläger und fertigte eine Übersichtsaufnahme des Gebisses (OPG) an. Am 15.11.1995 zog der Beklagte zu 2) in der Praxis des Anästhesisten Dr. K dem Kläger unter Vollnarkose 10 Zähne (11, 12, 14, 15, 17, 21, 22 und 23) im Unterkiefer und zwei Zähne (36 und 46) im Unterkiefer. Der Kläger hat den Beklagten zu 2) auf Zahlung eines Schmerzensgeldes - Vorstellung: 5.000,00 DM und Feststellung der Verpflichtung zum Ersatz materieller und zukünftiger immaterieller Schäden in Anspruch genommen. Von den Beklagten zu 1) und 3) begehrt der Kläger die Feststellung der Verpflichtung zum Ersatz materieller Schäden. Er hat behauptet, daß die Entfernung von sechs Zähnen im Oberkiefer (11, 12, 14, 17, 21, 22 und 23) und von zwei Zähnen im Unterkiefer (36 und 46) nicht indiziert gewesen sei. Am 03.11.1995 sei mir die Entfernung der Zähne 15 und 22 besprochen worden. Er leide darunter, daß er eine herausnehmbare Prothese tragen müsse und sein Gebiß bis heute nicht wiederhergestellt sei. Die Beklagten haben behauptet, daß die am 15.11.1995 gezogenen Zähne nicht mehr erhaltungswürdig gewesen seien. Nach ausführlicher Erläuterung des Gebißzustandes hätten der Kläger und dessen Mutter der Zahnextraktion zugestimmt.
Das Landgericht hat die Klage nach Einholung eines schriftlichen Gutachtens mit der Begründung abgewiesen, daß die entfernten Zähne nicht erhaltungswürdig gewesen seien und daß der Kläger und dessen Mutter wirksam in die Entfernung eingewilligt hätten. Dem Antrag, den Sachverständigen zur Erläuterung des schriftlichen Gutachtens zu laden, ist das Landgericht nicht nachgekommen.
Gegen dieses Urteil wendet sich der Kläger mit der Berufung und beantragt,
1. festzustellen, daß die Beklagten als Gesamtschuldner verpflichtet sind, ihm sämtliche materiellen Schäden zu ersetzen, die Folge davon sind, daß der Beklagte zu 2) am 15.11.1995 die Zähne 11, 12, 14, 17, 21 und 23 im Oberkiefer sowie die Zähne 36 und 46 im Unterkiefer gezogen hat;
2. den Beklagten zu 2) zu verurteilen, an ihn ein Schmerzensgeld zu zahlen, dessen Höhe in das Ermessen des Gerichts gestellt wird, nebst 4 % Zinsen ab Rechtshängigkeit;
3. festzustellen, daß der Beklagte zu 2) verpflichtet ist, ihm sämtlichen zukünftigen immateriellen Schaden zu ersetzen, der Folge davon ist, daß der Beklagte zu 2) am 15.11.1995 die Zähne 11, 12, 14, 17, 21 und 23 im Oberkiefer sowie die Zähne 36 und 46 im Unterkiefer gezogen hat.
Die Beklagten beantragen,
die gegnerische Berufung zurückzuweisen.
Die Parteien wiederholen, vertiefen und ergänzen ihren erstinstanzlichen Vortrag. Wegen der Einzelheiten ihres Vorbringens in der Berufungsinstanz wird auf die in dieser Instanz gewechselten Schriftsätze mit ihren Anlagen Bezug genommen.
Der Senat hat den Kläger angehört, die Mutter des Klägers und die ehemalige Arzthelferin des Beklagten zu 2) uneidlich als Zeugen vernommen sowie die Sachverständigen Prof. Dr. und Privatdozent Dr. das schriftliche Gutachten erläutern lassen. Insoweit wird auf den Vermerk des Berichterstatters zum Senatstermin vom 24. Januar 2001 verwiesen.
Entscheidungsgründe
Die Berufung des Klägers war erfolgreich.
Der Kläger hat gegen die Erben des Beklagten zu 2) Schadensersatzansprüche aus den §§ 847, 823, 1967 BGB und gegen - alle Beklagten - die Feststellung materieller Schäden betreffend wegen Schlechterfüllung des ärztlichen Behandlungsvertrages.
Ein Behandlungsfehler ist darin zu sehen, daß am 15.11.1995 keine medizinische Indikation zur Extraktion der Zähne 11, 12, 14, 17, 21, 23 im Oberkiefer und zur Extraktion der Zähne 36 und 46 im Unterkiefer vorgelegen hat. In der Beurteilung des Behandlungsgeschehens macht sich der Senat die Feststellungen der Sachverständigen Prof. Dr. und Privatdozent Dr. die ihre Gutachten überzeugend erläutert haben, zu eigen.
Dabei kann die Frage dahinstehen, ob der damals 16-jährige Kläger und dessen Mutter der Entfernung von insgesamt 10 Zähnen zugestimmt oder diese Entfernung sogar ausdrücklich gewünscht haben. Allein die Zustimmung oder der Wunsch eines Patienten kann die Zahnextraktion grundsätzlich nicht indizieren. Dies gilt erst recht bei einem 16-jährigen Patienten, wenn dieser den - unterstellten - Wunsch au...