Leitsatz (amtlich)

1.) Unterlässt es ein Arzt, seinen Patienten über einen längeren Zeitraum bei gleich bleibendem Gesundheitszustand über Behandlungsmöglichkeiten aufzuklären, dann liegt darin ein einheitlicher Rechtsschutzfall mit einem einzigen Dauerverstoß i.S.d. § 4 Abs. 2 ARB 2000.

2.) Verschlechtert sich dagegen der Zustand des Patienten, so dass zunächst über mögliche Therapien, dann über eine operative Entlastung der Wirbelsäule bis hin zur absoluten Operationsindikation hätte aufgeklärt werden müssen, dann liegt kein einheitlicher Dauerverstoß mehr vor.

Die Qualität der Pflichtenlage hat sich jeweils wesentlich verändert, so dass von mehreren selbständigen Verstößen und damit von mehreren Rechtsschutzfällen auszugehen ist.

3.) Durch ein Fallenlassen von Vorwürfen im Haftpflichtprozess kann der Versicherungsnehmer den Zeitpunkt des Eintritts des Versicherungsfalls nicht willentlich verschieben, es sei denn, es liegt hierfür ein sachlicher Anlass vor. I - 20 U 71/10 OLG Hamm Verkündet am 27.10.2010

 

Verfahrensgang

LG Detmold (Urteil vom 15.04.2010; Aktenzeichen 9 O 377/09)

 

Tenor

Die Berufung der Beklagten gegen das am 15.4.2010 verkündete Urteil der Zivilkammer IV des LG Detmold wird zurückgewiesen.

Die Beklagte trägt die Kosten der Berufung.

Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.

 

Gründe

A. Der Kläger nimmt als mitversicherte Person die Beklagte auf Deckung aus einem Rechtsschutz-Versicherungsvertrag für ein beabsichtigtes Klageverfahren wegen ärztlichen Fehlverhaltens in Anspruch. Dem Versicherungsvertrag liegen die "Allgemeinen Bedingungen für die Rechtsschutz-Versicherung" ARB 2000 Stand 1.4.2001 zugrunde. Versicherungsbeginn war der 15.8.2001.

Der Kläger befand sich seit 1998 wegen Cervikobrachialgien in ärztlicher Behandlung bei dem Facharzt für Neurologie und Psychiatrie Dr. med. R aus Bielefeld. Bereits aufgrund einer Kernspintomographie am 26.6.1998 wurden erstmalig Bandscheibenvorfälle diagnostiziert. Eine am 22.4.2002 erneut durchgeführte Kernspintomographie ergab einen stark betroffenen Spinalkanal; der Kläger litt an einer zunehmenden Schmerzsymptomatik und Taubheitsgefühlen im Hand- und Beinbereich. Eine weitere am 13.10.2004 durchgeführte Kernspintomographie ergab eine fortgeschrittene Querschnittsreduktion, so dass von einer Rückenmarksatrophie ausgegangen wurde. Der Kläger wurde am 1.6.2005 operiert.

Mit Anwaltsschreiben vom 2.8.2005 machte der Kläger ggü. dem Arzt geltend, dass "vor dem Hintergrund" einer Behandlung seit 1998 von einer ärztlichen Fehlbehandlung auszugehen sei. Nach Vorlage eines Gutachtens der Gutachterkommission für ärztliche Haftpflichtfragen bei der Ärztekammer Westfalen-Lippe vom 24.7.2007 machte der Kläger mit Anwaltsschreiben vom 24.8.2007 ggü. dem Haftpflichtversicherer des Arztes geltend, dass "bereits 1998 durch eine operative Entlastung eine Progredienz der Erkrankung hätte vermieden werden können und diese operative Entlastung auch angezeigt war". Ferner heißt es in diesem Schreiben des Klägers, "dass bei der 1998 bereits augenfälligen Entwicklung mögliche und gebotene weitere Aufklärungsmöglichkeiten ergriffen werden mussten" sowie im direkten Anschluss "Für die Höhe der Einzelansprüche werden wir also den Zustand des Mandanten zugrunde legen, der bestanden hätte seit 1998, wenn zu diesem Zeitpunkt bereits die Operation durchgeführt worden wäre".

Mit Schreiben vom 6.9.2007 lehnte die Beklagte die Gewährung von Rechtsschutz ab, da der Rechtsschutzfall vor Versicherungsbeginn eingetreten sei. Auch nach Hinweis des Klägers, dass er seine Ansprüche gegen den Arzt auf die Zeit nach dem 22.4.2002 stütze, hielt die Beklagte an der Rechtsschutzverweigerung fest.

Wegen des Weiteren erstinstanzlichen Vortrags der Parteien und wegen der gestellten Anträge wird auf das Urteil des LG Bezug genommen.

Das LG hat der auf Feststellung der Verpflichtung zur Gewährung von Versicherungsschutz für ein Klageverfahren erster Instanz gegen den Arzt auf Schmerzensgeld in einer Größenordnung von 30.000 EUR und Schadensersatz i.H.v. 20.000 EUR wegen möglichen ärztlichen Fehlverhaltens ab April 2002 sowie auf Zahlung von 775,64 EUR für vorgerichtliche Rechtsverfolgungskosten gerichteten Klage stattgegeben aus im Wesentlichen folgenden Gründen: Der Versicherungsfall sei während des vom Versicherungsschutz umfassten Zeitraums eingetreten. Bei einem ärztlichen Behandlungsfehler sei auf diesen und nicht auf den daraus resultierenden Körperschaden abzustellen. Bei einem Unterlassen des Hinweises auf die Notwendigkeit einer Operation komme es auf den Eintritt der Situation an, in der der Arzt hätte handeln müssen, um einen Schaden abzuwenden. Dieser Zeitpunkt liege nach der Behauptung des Klägers im April 2002; frühere Pflichtverletzungen habe es nach seinen Behauptungen nicht gegeben und auf solche wolle er den Prozess nicht stützen. Die Kammer sei angesichts des gutachterlichen Bescheids der Ärztekammer Westfalen-Lippe nicht davon überzeugt, dass - wie von der Beklagten behauptet - in dem Verhalt...

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