Leitsatz (amtlich)
Stürzt ein älterer Fahrgast, der einen Bus mit einem Rollator besteigt, beim Anfahren des Busses, weil er es versäumt hat, sich sofort einen festen Halt zu verschaffen, kann auch dann, wenn den Busfahrer kein Verschulden an dem Vorfall tritt, eine Konstellation vorliegen, die die Betriebsgefahr des Busses nicht hinter das fahrlässige Verhalten des Fahrgastes zurücktreten lässt. Allein das Mitführen eine Rollators beim Buseinstieg ist keine Situation, die dem Busfahrer eines besondere Hilfsbedürftigkeit des Fahrgastes signalisiert, so dass er mit dem Anfahren bis zur Eigensicherung des Fahrgastes abzuwarten hat.
Normenkette
BGB § 254; StVG § 7 I
Verfahrensgang
LG Bochum (Aktenzeichen 5 O 390/20) |
Tenor
Auf die Berufung der Beklagten wird das am 04.10.2021 verkündete Urteil des Einzelrichters der 5. Zivilkammer des Landgerichts Bochum teilweise abgeändert.
Die Beklagte bleibt verurteilt, an die Klägerin 206,77 EUR sowie ein Schmerzensgeld von 2.000,00 EUR nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 24.12.2019 zu zahlen.
Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
Die weitergehende Berufung wird zurückgewiesen.
Die Kosten des Rechtsstreits erster Instanz tragen die Klägerin zu 64 % und die Beklagte zu 36 %.
Die Kosten des Berufungsverfahrens tragen die Klägerin zu 32 % und die Beklagte zu 68 %.
Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.
Gründe
I. Die am 00.00.19XX geborene Klägerin verlangt Schadensersatz wegen der Folgen eines Sturzes am 00.00.20XX um 17.41 im Linienbus der von der Beklagten betriebenen Linie ... bei Abfahrt von der Haltestelle T - Straße/F-Straße in S.
Wegen der Einzelheiten des Sachverhalts und der erstinstanzlich gestellten Anträge wird gemäß § 540 ZPO auf die Feststellungen in dem angefochtenen Urteil verwiesen.
Das Landgericht hat nach uneidlicher Vernehmung des Zeugen Q der Klage wegen eines materiellen Schadens in Höhe von 727,88 EUR sowie eines Schmerzensgeldes in Höhe von 2.500,00 EUR nebst Zinsen teilweise stattgegeben und ausgeführt: Die Beklagte hafte für eine schuldhafte Verletzung ihrer Pflichten aus dem zwischen den Parteien geschlossenen Beförderungsvertrag. Weil die Klägerin den Bus mit einem Rollator bestiegen habe, hätte sich dem Fahrer Q, dessen Verschulden der Beklagten zuzurechnen sei, ihre besondere Hilfsbedürftigkeit aufdrängen und er mit dem Anfahren abwarten müssen. Jedoch treffe die Klägerin ein mit einem Drittel zu bewertendes Mitverschulden, da sie versäumt habe, sich festen Halt zu verschaffen oder dem Fahrer Bescheid zu sagen, bevor sie in den Bus eingestiegen sei.
Mit der Berufung verfolgt die Beklagte ihren Antrag auf vollständige Klageabweisung weiter. Sie rügt die Rechtsauffassung des Landgerichts, dass den Busfahrer ein Verschulden am Sturz der Klägerin treffe. Die Klägerin habe problemlos den Bus bestiegen, weshalb eine besondere Hilfsbedürftigkeit bei ihr nicht erkennbar gewesen sei. Allein das Mitführen eines Rollators reiche hierfür nicht aus. Stattdessen treffe die Klägerin ein alleiniges Verschulden, hinter dem die Betriebsgefahr des Busses vollständig zurücktrete.
Die Klägerin beantragt Berufungszurückweisung und verteidigt das angefochtene Urteil.
II. Die zulässige Berufung hat teilweise Erfolg.
Der Klägerin steht aufgrund des Sturzes am 00.00.20XX ein geringerer Schadensersatzanspruch gegen die Beklagte zu, als ihr das Landgericht zuerkannt hat.
1. Ob der Klägerin vertragliche Ansprüche aus einem mit der dem Verkehrsverbund U angehörenden Beklagten abgeschlossen Beförderungsvertrag in Verbindung mit § 280 Abs. 1 BGB zustehen, zumal sie aufgrund ihrer Schwerbehinderung zur kostenlosen Nutzung öffentlicher Verkehrsmittel berechtigt war und keinen Fahrschein erworben hatte, kann dahinstehen. Denn jedenfalls beruht der Sturz der Klägerin entgegen der Auffassung des Landgerichts nicht auf einem schuldhaften Verhalten des Busfahrer Q, welches sich die Beklagte zurechnen lassen müsse. Aus diesem Grund kann die Klägerin ihr Anspruchsbegehren auch nicht auf § 823 BGB stützen.
a) Ein Fahrfehler des Zeugen Q, insbesondere ein ruckhaftes Anfahren oder Bremsen liegt nicht vor. Wie das vom Senat in Augenschein genommene Video aus der Überwachungskamera des Busses zeigt, geschah der Sturz der Klägerin bei einem gewöhnlichen Anfahrvorgang an einer Haltestelle, bei dem andere Fahrgäste durch die Bewegung des Busses nicht aus dem Gleichgewicht gerieten.
b) Dem Zeugen Q kann des Weiteren nicht vorgehalten werden, dass er mit dem Anfahren nicht abgewartet hat, bis die Klägerin einen Sitzplatz eingenommen oder sonst sicheren Halt im Bus gefunden hatte, obwohl er sie ausweislich seiner Zeugenaussage vor dem Landgericht vor dem Anfahren des Busses samt Rollator im Spiegel gesehen hatte. Denn der Umfang der einen Busfahrer treffenden Pflichten umfasst regelmäßig nicht die Beobachtung der Fahrgäste. Vielmehr ist der Fahrgast in einem Bus sich grundsätzlich selbst überlassen und kann nicht damit rechnen, dass der Wagenführer sich um ihn kümmert. Der Bu...