Leitsatz (amtlich)

Ein selbständiges Beweisverfahren ist auch dann zulässig, wenn es auf die Feststellung eines ärztlichen Behandlungsfehlers gerichtet ist; das gilt auch für Fragen, die die medizinischen Voraussetzungen eines groben Behandlungsfehlers betreffen.

 

Verfahrensgang

LG Baden-Baden (Beschluss vom 04.06.2010; Aktenzeichen 1 OH 17/09)

 

Tenor

I. Auf die sofortige Beschwerde des Antragstellers wird der Beschluss des LG Baden-Baden 4.6.2010 (1 OH 17/09) im Kostenausspruch aufgehoben und im Übrigen wie folgt geändert:

Es soll ein schriftliches Sachverständigengutachten zu folgenden Fragen eingeholt werden:

1. Seit wann lag bei der verstorbenen Ehefrau des Antragstellers, Frau Giovanna Grazia T., genannt Tr., geboren am ... 1946, verstorben am ... 2007, zuletzt wohnhaft B.-straße ..., A., der im März 2006 diagnostizierte bösartige Hirntumor vor?

2. Lagen bei der verstorbenen Ehefrau des Antragstellers neurologische oder psychiatrische Auffälligkeiten vor, die nicht mehr ausschließlich mit einer nicht hirnorganisch bedingten Depression erklärt werden konnten?

3. Ab wann lagen diese Auffälligkeiten ggf. vor?

4. An was musste differenzialdiagnostisch (ggf. ab wann) zur Erklärung des Krankheitsbildes der Verstorbenen gedacht werden?

5. Wurden von den Antragsgegnern (aus ex ante-Sicht) alle notwendigen Befunde zur Erklärung des Krankheitsbildes erhoben?

6. Wurden diese Befunde richtig gedeutet?

7. Falls eine Fehlinterpretation der Befunde vorlag: Handelte es sich hierbei um einen fundamentalen Diagnoseirrtum?

8. Für den Fall, dass nicht alle notwendigen Befunde erhoben worden sein sollten: Welches Ergebnis wäre wahrscheinlich bei der Durchführung der an sich gebotenen Befunderhebung zu erwarten gewesen?

9. Dieses Ergebnis den Antragsgegnern als bekannt unterstellt: War die Weiterbehandlung der Antragsgegner vor dem Hintergrund dieses Ergebnisses lege artis oder nicht?

10. Falls die Behandlung vor dem Hintergrund des zu unterstellenden Ergebnisses nicht mehr lege artis war, war sie in diesem Falle schlechterdings nicht mehr nachvollziehbar und so unverständlich, dass sie den Behandlern dann nicht hätte unterlaufen dürfen?

11. Für den Fall, dass notwendige Befunde durch einen der Behandler nicht erhoben wurden: War dieses Nichterheben der Befunde für sich genommen schlechterdings nicht mehr nachvollziehbar und hätte deshalb nicht unterlaufen dürfen?

12. War die durch die Antragsgegner Ziff. 2 bis 4 durchgeführte Therapie mit dem Medikament "Fluspi" lege artis oder nicht?

13. Für den Fall, dass die Diagnose eines Hirntumors aufgrund unzureichender Befunderhebung oder wegen Diagnosefehler zu spät gestellt worden sein sollte: Welche Auswirkungen hat dies auf den Krankheitsverlauf für die verstorbene Ehefrau des Antragstellers gehabt? Wie hätte sich der Krankheitsverlauf bei entsprechend frühzeitigerer Diagnose sicher/wahrscheinlich/möglicherweise verändert?

II. Die Bestimmung und Instruktion der Sachverständigen wird dem LG übertragen.

III. Die Rechtsbeschwerde wird zugelassen.

 

Gründe

I. Der Antragsteller betreibt als Miterbe seiner Ehefrau ein selbständiges Beweisverfahren zu der Behauptung, die acht Antragsgegner hätten den Tod seiner Ehefrau durch ärztliche Behandlungsfehler mitverursacht, weil sie als behandelnde Hausärzte, Radiologen und Neurologen den im März 2006 diagnostizierten bösartigen Hirntumor nicht rechtzeitig erkannt hätten. Er hat am 31.12.2009 die Einholung schriftlicher Sachverständigengutachten zu den dreizehn aus dem Tenor ersichtlichen Fragen beantragt. Das LG hat den Antrag durch Beschluss vom 4.6.2010, auf den wegen der Darstellung des Sach- und Streitstands Bezug genommen wird, mit der Begründung zurückgewiesen, es sei bereits zweifelhaft, ob der Antragsteller infolge seiner fehlenden Aktivlegitimation als bloßer Miterbe ein rechtliches Interesse an der Beweisaufnahme habe. Die Durchführung eines selbständigen Beweisverfahrens sei aber jedenfalls deshalb unzulässig, weil der Antrag nicht auf die Feststellung der in § 485 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 bis 3 ZPO bezeichneten Tatsachen, sondern darauf gerichtet sei, Behandlungsfehler der Antragsgegner festzustellen und deren Haftung umfassend zu klären. Außerdem seien die auf alle Antragsgegner bezogenen Fragen zu allgemein formuliert und auf eine unzulässige Ausforschung gerichtet.

Gegen diesen am 4.5.2010 zugestellten Beschluss hat der Antragsteller am 18.5.2010 sofortige Beschwerde eingelegt. Er verfolgt seinen Antrag in vollem Umfang weiter und fasst hilfsweise einen Teil der Beweisfragen neu. Zur Begründung macht er geltend, seine Aktivlegitimation ergebe sich aus § 2039 BGB. Die Feststellung von ärztlichen Behandlungsfehlern und deren Ursächlichkeit könne Gegenstand eines selbständigen Beweisverfahrens sein. Die rechtstechnische Verbindung der Anträge gegen mehrere Ärzte ändere daran nichts. Die Rechtsprechung zur eingeschränkten Darlegungslast des Patienten im Arzthaftungsprozess gelte auch für ein solches Beweisverfahren. Gemessen daran sei der Sachvortrag zu den...

Dieser Inhalt ist unter anderem im Deutsches Anwalt Office Premium enthalten. Sie wollen mehr?


Meistgelesene beiträge