Leitsatz (amtlich)
1. Die weitere (Haft-)Beschwerde ist nach § 310 Abs. 1 Nr. 1 StPO auch dann statthaft, wenn der Haftbefehl nicht vollzogen wird.
2. Allein der Umstand, dass sich ein Beschuldigter in sein Heimatland zurückbegeben hat, lässt nicht den Schluss zu, er wolle sich dem Strafverfahren in Deutschland entziehen.
3. Weisen die bisherigen Ermittlungen erhebliche Lücken auf, die durch umfangreiche Ermittlungsmaßnahmen, unter anderem Rechtshilfeersuchen in andere Staaten, zu schließen sind, hat das (Haft-)Beschwerdegericht die Entscheidung nicht zurückzustellen, sondern auf der bisherigen Grundlage zu entscheiden.
Verfahrensgang
LG Waldshut-Tiengen (Entscheidung vom 19.06.2015) |
AG Waldshut-Tiengen (Entscheidung vom 01.02.2013) |
Tenor
Auf die weitere Beschwerde des Beschuldigten werden der Haftbefehl des Amtsgerichts Waldshut-Tiengen vom 1. Februar 2013 in der Fassung des Beschlusses vom 22. Mai 2015 sowie der Beschluss des Landgerichts Waldshut-Tiengen vom 19. Juni 2015 aufgehoben.
Die Kosten des Beschwerdeverfahrens und die dem Beschuldigten hieraus entstandenen notwendigen Auslagen trägt die Staatskasse (§ 467 Abs. 1 StPO analog).
Gründe
A.
Die Staatsanwaltschaft Waldshut-Tiengen hat gegen den Beschuldigten einen Haftbefehl des Amtsgerichts Waldshut-Tiengen erwirkt, in dem ihm zuletzt noch der bandenmäßige Handel mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge in 63 Fällen im Zeitraum von April 2007 bis 4.2.2010 vorgeworfen und der Haftgrund der Fluchtgefahr angenommen wird.
Das Ermittlungsverfahren ist Teil eines größeren Ermittlungskomplexes, das die regelmäßige Lieferung von Marihuana im jeweils zweistelligen Kilogrammbereich aus den Niederlanden über Deutschland in die Schweiz im Zeitraum von April 2007 bis Anfang Februar 2010 zum Gegenstand hat. Mehrere der an der Lieferkette beteiligten Personen wurden zwischenzeitlich rechtskräftig verurteilt. Nach dem Inhalt des Haftbefehls soll die Lieferkette bei dem Beschuldigten ihren Anfang haben.
Der Beschuldigte befindet sich auf freiem Fuß. Er war zwar am 13.2.2013 in den Niederlanden festgenommen worden. Seine Auslieferung nach Deutschland scheiterte jedoch daran, dass die Staatsanwaltschaft Waldshut-Tiengen nicht die von den niederländischen Justizbehörden verlangte Zustimmung zu einer Umwandlung der Strafe nach dem Übereinkommen über die Überstellung verurteilter Personen vom 21.3.1983 im Rahmen einer Rücküberstellung zur Vollstreckung abgab.
Das Landgericht Waldshut-Tiengen hat mit dem angefochtenen Beschluss vom 19.6.2015 die Beschwerde des Beschuldigten gegen den Haftbefehl zurückgewiesen. Hiergegen richtet sich die weitere Beschwerde des Beschuldigten, mit der Einwendungen gegen den dringenden Tatverdacht und den Haftgrund erhoben werden.
B.
Das Rechtsmittel ist zulässig und hat in der Sache (vorläufigen) Erfolg.
I.
Die weitere Beschwerde ist gemäß § 310 Abs. 1 Nr. 1 StPO statthaft. Der Senat folgt insoweit der wohl herrschenden Meinung in Rechtsprechung und Literatur, dass diese Vorschrift die Überprüfung des Bestands eines Untersuchungshaftbefehls unabhängig von dessen Vollzug zulässt (OLG Karlsruhe - 1. Strafsenat - StRR 2011, 74; weitere Nachweise - auch zur Gegenmeinung - bei LR-Matt, StPO, 26. Aufl., § 310 Rn. 32 f.; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 59. Aufl., § 310 Rn. 7). Aus der sprachlichen Fassung der Vorschrift, die nicht an den Haftbefehl, sondern an die "Verhaftung" anknüpft, kann im Hinblick darauf, dass dieser Begriff auch in der Überschrift des den Untersuchungshaftbefehl regelnden 9. Abschnitt des Ersten Buchs der Strafprozessordnung in der übergeordneten Bedeutung verwendet wird, keine Beschränkung auf den vollzogenen Haftbefehl abgeleitet werden. Im Licht der verfassungsgerichtlichen Rechtsprechung, nach der auch ein nicht vollzogener Haftbefehl eine schwerwiegende Beeinträchtigung der persönlichen Freiheit darstellt (BVerfGE 53, 152), entspricht die weitergehende Auslegung trotz des Ausnahmecharakters der Vorschrift dem Gesetzeszweck, den Rechtszug in Bezug auf den Beschuldigten besonders beschwerende Maßnahmen zu erweitern (vgl. dazu auch die Beschlussempfehlung des Rechtsausschusses zum Entwurf des Gesetzes zur Stärkung der Rückgewinnungshilfe und der Vermögensabschöpfung bei Straftaten vom 24.10.2006, mit dem der Anwendungsbereich des § 310 Abs. 1 StPO auf Arreste im Hinblick auf deren potenziell existenzgefährdende Wirkung erweitert wurde, BT-Drs. 16/2021 S. 6)
II.
Das Rechtsmittel ist auch begründet.
Dem Senat ist auf der Grundlage des sich aus den vorgelegten Akten ergebenden Ermittlungsstandes eine zuverlässige Beurteilung nicht möglich, ob die Voraussetzungen für die Anordnung der Untersuchungshaft gemäß § 112 StPO vorliegen. Dies betrifft das Vorliegen sowohl des dringenden Tatverdachts (§ 112 Abs. 1 Satz 1 StPO) als auch des Haftgrunds (§ 112 Abs. 2 StPO). Da eine Klärung der offenen Fragen kurzfristig nicht zu erwarten ist, führt dies zur Aufhebung des Haftbefehls.
1. Bei Anwendung des rechtlich gebotenen Prüfungsmaßstabes kann nach de...