Entscheidungsstichwort (Thema)
Notwendige Verteidigung
Leitsatz (redaktionell)
Bei einer Straferwartung von einem Jahr Freiheitsstrafe und darüber ist in der Regel die Mitwirkung eines Verteidigers geboten.
Verfahrensgang
AG Mannheim (Urteil vom 29.05.2000; Aktenzeichen 23 Ds 308 Js 4118/00) |
Gründe
I.
Der aus Sierra Leone stammende und sich seit Sommer 1999 in der Bundesrepublik Deutschland als Asylbewerber aufhaltende Angeklagte wurde durch Urteil des Amtsgerichts Mannheim vom 29. Mai 2000 wegen Handeltreibens mit Betäubungsmitteln zu der Freiheitsstrafe von acht Monaten verurteilt. Nach den getroffenen Feststellungen hatte er im August 1999 zwei Plomben Kokain zum Preis von je DM 20 an den gesondert verfolgten V D verkauft, auf dessen Aussagen - der Angeklagte hat die Tat in Abrede gestellt - das Amtsgericht seine Überzeugung der Täterschaft des Angeklagten im Wesentlichen stützte.
Gegen dieses Urteil hat der in der Hauptverhandlung nicht anwesende Wahlverteidiger des Angeklagten in dessen Namen am 31. Mai 2000 Berufung eingelegt und nach erfolgter Zustellung des Urteils am 15.06.2000 mit am 20.06.2000 beim Amtsgericht eingekommenen Schriftsatz sein Rechtsmittel als Revision bezeichnet. Er rügt die Verletzung formellen und materiellen Rechts. Mit der Verfahrensrüge beanstandet er insbesondere, das Amtsgericht habe die Anträge des seit 16.03.2000 inhaftiert gewesenen Angeklagten auf Beiordnung eines Pflichtverteidigers rechtsfehlerhaft zurückgewiesen, weshalb die Hauptverhandlung entgegen § 140 Abs. 2 StPO ohne Mitwirkung eines Verteidigers stattgefunden habe.
Die Generalstaatsanwaltschaft Karlsruhe hat die Aufhebung des Urteils und dessen Zurückverweisung an eine andere Abteilung des Amtsgerichts Mannheim beantragt.
II.
Das gemäß § 335 StPO zulässig erhobene Rechtsmittel (vgl. Kleinknecht/Meyer-Goßner, StPO, 44. Aufl. 1999, § 335 Rdn. 9) ist begründet.
Die formgemäß erhobene Verfahrensrüge der Verletzung der §§ 338 Nr. 5, 145 Abs. 1, 140 Abs. 2 StPO i.V.m. Art 6 Abs. 3 c MRK greift durch.
Die vom Amtsgericht gegen den Angeklagten durchgeführte Hauptverhandlung hat in Abwesenheit einer Person stattgefunden, deren Anwesenheit das Gesetz zwingend vorschreibt (§ 338 Nr. 5 StPO). Zu Recht weist die Generalstaatsanwaltschaft in ihrer Antragschrift vom 18.09.2000 darauf hin, dass vorliegend die Mitwirkung eines Verteidigers wegen der Schwere der Tat notwendig war.
Es entspricht der ständigen Rechtsprechung des Senats, bei einer Straferwartung von einem Jahr Freiheitsstrafe und darüber in der Regel die Mitwirkung eines Verteidigers als geboten zu erachten (Senat, NStZ 1991, 504 f.; Kleinknecht/Meyer-Goßner, aaO., § 140 Rdn. 23). Dass ein solches Strafmaß vorliegend im Raume stand, ergab sich bereits aus dem Schlussvortrag der Staatsanwaltschaft, welche die Verhängung einer entsprechenden Sanktion beantragt hatte. Ob bereits dies ggf. unter Aussetzung oder Unterbrechung der Hauptverhandlung die Beiordnung eines Pflichtverteidigers erfordert hätte, bedarf keiner abschließenden Entscheidung, denn die Schwere der Tat beurteilt sich nicht allein nach der zu treffenden Rechtsfolgenentscheidung. Diese darf nämlich nicht als starre Grenze verstanden werden. Ob ein Verteidiger zu bestellen ist, hängt nämlich darüber hinaus auch von der Verteidigungsfähigkeit des Angeklagten ab, die sich nach dem Zustand seiner Persönlichkeit und den Umständen des Falles richtet. Auch ist zu berücksichtigen, ob dem Angeklagten im Falle einer Verurteilung weitere Nachteile, wie etwa der Widerruf von Strafaussetzungen (OLG Köln, StV 1993, 402; StV 1998, 645; KG, StV 1994, 287; OLG Frankfurt, StV 1995, 628 ff.) oder die Unterbringung in einer Entziehungsanstalt (OLG Karlsruhe, Die Justiz 1993, 201 f.), drohen. Daher kann im Einzelfall auch bei einer Straferwartung von weniger als einem Jahr bei Hinzutreten weiterer Umstände die Mitwirkung eines Verteidigers geboten sein, wohingegen auch bei höheren Strafdrohungen die Bestellung eines Verteidigers dann entbehrlich ist, wenn es sich um einen einfach gelagerten Sachverhalt handelt (Senat, NStZ 91, 505 f.).
Die für die Beurteilung der Schwere der Tat im Sinne des § 140 Abs. 2 StPO notwendige wertende Gesamtbetrachtung ergibt, dass der Angeklagte des Beistands eines Verteidigers bedurfte, um das aus Art 6 MRK sich ergebende Recht auf ein faires Verfahren zu wahren.
Entgegen der Ansicht des Verteidigers kommt freilich dem Umstand einer dem Angeklagten ggf. drohenden Ausweisung aus der Bundesrepublik Deutschland kein maßgebliches Gewicht bei. Allerdings ist der Senat durchaus der Auffassung, dass ausländerrechtlichen Folgen einer Straftat als ein Nachteil angesehen werden können, welchen es im Rahmen des § 140 Abs. 2 StPO abzuwägen gilt (ebenso BayObLG, StV 1993, 180 bei einer vorsätzlichen Straftat und drohender Ausweisung; siehe auch LG Hamburg, StV 1992, 371; LG Berlin, StV 1994, 11). Insoweit verbietet sich aber eine schematische Beurteilung, abzustellen ist stets auf den Einzelfall, insbesondere muss es si...