Leitsatz (amtlich)
Die Bestellung eines Pflichtverteidigers für die Hauptverhandlung ist im Regelfalle geboten, wenn dem der deutschen Sprache nicht mächtigen Ausländer die Anklageschrift nicht während des Zwischenverfahrens in die deutschen Sprache übersetzt worden ist.
Tenor
Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Amtsgerichts Z. vom 01. Juli 2004 mit den zu Grunde liegenden Feststellungen aufgehoben.
Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten der Revision, an eine andere Abteilung des Amtsgerichts Z. zurückverwiesen.
Gründe
I.
Das Amtsgericht Z. hat den vietnamesischen Angeklagten, der im August 2001 als Asylbewerber nach Deutschland einreiste und von Sozialhilfe lebt, mit Urteil vom 01. Juli 2004 wegen Diebstahls zu der Freiheitsstrafe von zwei Monaten verurteilt, deren Vollstreckung es nicht zur Bewährung ausgesetzt hat. Nach den Feststellungen hatte der Angeklagte am 25. November 2003 in bewusstem und gewolltem Zusammenwirken mit zwei unbekannt gebliebenen männlichen Personen in einem Kaufhaus Zigaretten im Gesamtwert von 30 EUR entwendet. Seine Überzeugung von der Täterschaft des die Tat bestreitenden Angeklagten hat das Gericht auf die Angaben eines Belastungszeugen gestützt.
Mit der gegen seine Verurteilung gerichteten Revision rügt der Angeklagte die Verletzung formellen und materiellen Rechts. Sein Rechtsmittel hat mit einer Verfahrensrüge in vollem Umfang Erfolg (§ 349 Abs. 4 StPO).
II.
Die Rüge eines Verstoßes gegen § 338 Nr. 5 StPO greift durch. Ihr liegt folgender Verfahrensgang zu Grunde:
Der Angeklagte stammt aus Vietnam, hält sich seit August 2001 in Deutschland auf und lebt von Sozialhilfe. Die deutsche Sprache beherrscht er nicht. Die Anklageschrift der Staatsanwaltschaft ist ihm nur in deutscher Sprache mitgeteilt worden. Erst in der Hauptverhandlung ist ihm der Anklagevorwurf mündlich übersetzt worden. Einen Pflichtverteidiger hat das Gericht dem bereits wegen Diebstahls vorbestraften Angeklagten nicht bestellt.
Diese Verfahrensweise verstößt gegen § 338 Nr. 5 StPO. Der Angeklagte war in der Hauptverhandlung ohne den Beistand eines Verteidigers, obwohl seine Mitwirkung gemäß § 140 Abs. 2 StPO geboten gewesen wäre. Die Schwierigkeit der Sach- und Rechtslage und der Umstand, dass die Anklageschrift dem Angeklagten entgegen Art 6 Abs. 3 a MRK nicht in einer ihm verständlichen Sprache mitgeteilt worden ist und er sich deshalb nicht sachgerecht selbst verteidigen konnte, forderten die Pflichtverteidigerbestellung, deren Unterlassung den absoluten Revisionsgrund des § 338 Nr. 5 StPO erfüllt (vgl. BGHSt 15, 306 ≪307≫; Meyer-Goßner StPO 48. Aufl. § 338 Rdn. 41 m.w.N.).
1.
Nach § 140 Abs. 2 Satz 1 StPO bestellt der Vorsitzende dem Angeklagten auf Antrag oder von Amts wegen unter anderem dann einen Verteidiger, wenn seine Mitwirkung wegen der Schwierigkeit der Sach- oder Rechtslage geboten erscheint oder wenn ersichtlich ist, dass sich der Angeklagte nicht selbst verteidigen kann. An der Fähigkeit zu angemessener Selbstverteidigung fehlt es schon dann, wenn konkrete Anhaltspunkte dafür sprechen, dass der Angeklagte auf Grund seiner Persönlichkeit oder seiner besonderen persönlichen Fähigkeiten nicht in der Lage sein wird, alle Möglichkeiten einer angemessenen Verteidigung auszuschöpfen (vgl. Wohlers in: SK StPO § 140 Rdn. 46).
a)
Anlass zur Prüfung der Frage, ob der Angeklagte fähig ist, sich ohne den Beistand eines Verteidigers ausreichend selbst zu verteidigen, besteht insbesondere dann, wenn der Angeklagte sprachbedingte Verständigungsschwierigkeiten hat oder aus einem anderen Kulturkreis stammt und mit dem deutschen Rechtssystem nur unzureichend vertraut ist (vgl. OLG Karlsruhe, NStZ 1987, 522; OLG Brandenburg, StV 2000, 69 ≪70≫). Sprachbedingte Verständigungsschwierigkeiten können dazu führen, dass die Bestellung eines Verteidigers eher in Betracht kommt als dies sonst der Fall ist (vgl. BVerfGE 64, 135 ≪150≫ m.w.N.).
b)
Die Sprachunkundigkeit eines Angeklagten steht der Annahme einer ausreichenden eigenen Verteidigungsfähigkeit freilich nicht ausnahmslos entgegen (vgl. BGHSt 46, 178 ≪180 f.≫ m.w.N.; Tolksdorf, in: KK StPO 5. Aufl. § 140 Rdn. 24 m.w.N.). Einer Pflichtverteidigerbestellung bedarf es deshalb nicht, wenn die mit den sprachbedingten Verständigungsschwierigkeiten einher gehenden Beschränkungen durch den Einsatz von Übersetzungshilfen, insbesondere durch die (unentgeltliche) Hinzuziehung eines Dolmetschers, angemessen ausgeglichen werden können.
c)
Eine Pflichtverteidigerbestellung wird demgegenüber regelmäßig in den Fällen geboten sein, in denen darüber hinaus der aus § 201 StPO i. V.m. Art. 6 Abs. 3 a) MRK folgende Anspruch des sprachunkundigen Angeklagten auf rechtzeitige Bekanntgabe der Anklageschrift unter Beifügung einer Übersetzung in einer ihm verständlichen Sprache verletzt worden ist.
aa)
Nach einhellig in Rechtsprechung und Schrifttum vertretener Ansicht hat der Angeschuldigte gemäß § 201 StPO i.V.m. Art. 6 Abs. 3 a MRK einen Rechtsanspruch a...