Leitsatz (amtlich)

1. Die Durchführung einer Tatverdachtsprüfung ist wegen Vorliegens besonderer Umstände nicht veranlasst, wenn die vom Verfolgten zum Nachweis seines Alibis behaupteten Zeugenaussagen und vorgelegten Bestätigungen keinen zweifelsfreien und eindeutigen Schluss darauf zulassen, dass der Verfolgte die Tat nicht begangen haben kann. Die insoweit notwendige Überprüfung der Zeugenaussagen und Bestätigungen auf ihre Glaubwürdigkeit bleibt dem ersuchenden Staat vorbehalten.

2. Eine nach den Bestimmungen des Europäischen Auslieferungsübereinkommens vom 13. Dezember 1957 mögliche Unterbrechung der Verfolgungsverjährung auch aufgrund von Unterbrechungshandlungen des ersuchenden Staates ist nicht mehr möglich, wenn nach deutschem Recht absolute Verjährung nach § 78c Abs. 3 Satz 2 StGB eingetreten ist.

3. Bei der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zur Prüfung der Vereinbarkeit einer Auslieferung und der ihr zugrundeliegenden Akte des ersuchenden Staates mit dem nach Art. 25 GG in der Bundesrepublik Deutschland verbindlichen völkerrechtlichen Mindeststandard und den unabdingbaren verfassungsrechtlichen Grundsätzen handelt es sich um verfassungsrechtliche Mindestanforderungen, welche bei Vorliegen besonderer Umstände eine weitere Sachaufklärung und die Einholung einer völkerrechtlich verbindliche Zusicherung gebieten können (Auslieferung eines HIV-Infizierten an die Russische Föderation).

4. Auch wenn es der Grundsatz eines fairen Verfahrens im Einzelfall gebieten kann, dem ersuchenden Staat eine diesem ersichtlich nicht bekannte Einlassung eines aus dortiger Sicht Tatverdächtigen mit der Bitte um Prüfung der Aufrechterhaltung des Auslieferungsersuchens zu Kenntnis zu bringen, obliegt es grundsätzlich dem Verfolgten selbst, im ersuchenden Staat seine Einwendungen gegen die Berechtigung einer dortigen Haftanordnung geltend zu machen.

 

Tenor

  1. Die Auslieferung des Verfolgten in die Russischen Föderation aufgrund des Auslieferungsersuchens der Generalstaatsanwaltschaft der Russischen Föderation vom 20. Oktober 2015 wird mit folgenden Maßgaben und Einschränkungen für zulässig erklärt:

    1. Die Auslieferung des Verfolgten ist zulässig, soweit diesem im Beschluss über die Auswahl der Vorbeugungsmaßnahme als Inhaftnahme des Bezirksgerichts Presnenskij der Stadt Moskau vom 15. Juni 2012 die Begehung eines Verbrechens des Raubes nach Art. 162 des Strafgesetzbuches der Russischen Föderation (StGB RF vorgeworfen wird. Sie ist nicht zulässig, soweit hierin auch eine Ahndung der dem Verfolgten vorgeworfenen Tat unter folgenden rechtlichen Gesichtspunkten beabsichtigt ist

      • -

        Verbrechen nach Abs. 3 Art. 222 StGB RF (gesetzwidriger Erwerb von Waffen, Übergabe, Besitz, Verkauf, Verbringung oder Tragen von Waffen oder deren Hauptteilen, Munition, Explosivstoffen und Sprengvorrichtungen);

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        Verbrechen nach Abs. 1 Art. 209 StGB RF (Banditentum);

    2. Die Auslieferung ist nur mit der Maßgabe zulässig, dass der Verfolgte im Falle seiner Überstellung in die Russische Föderation entsprechend den von der Generalstaatsanwaltschaft der Russischen Föderation im Auslieferungsersuchen vom 20. Oktober 2015 sowie mit Note vom 30. März 2016 für das vorliegende Auslieferungsverfahren speziell erteilten Zusicherungen und Garantien

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        während der Untersuchungs- und ggf. sich anschließenden Strafhaft in einem Haftraum in mit einer Belegung von nicht mehr als vier Personen untergebracht wird;

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        aufgrund seiner HIV-Infizierung umgehend nach seiner Überstellung bis auf weiteres die Medikamente Tenofir (TDF) 300 mg und Lamivudin (3 TL) 300 mg in aus ärztlicher Sicht notwendigem Umfang erhält;

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        sowohl Mitarbeitern des konsularischen Dienstes der Botschaft der Bundesrepublik Deutschland in der Russischen Föderation als auch von der Botschaft der Bundesrepublik Deutschland bei Bedarf beauftragten sonstigen Personen - insbesondere von dieser beauftragten Ärzten - die Möglichkeit eingeräumt wird, den Verfolgten jederzeit in der Haftanstalt zu besuchen und - mit dessen ausdrücklicher Zustimmung - Einsicht in die Krankenakten bzw. Behandlungsunterlagen des Verfolgten zu nehmen.

  2. Die Auslieferungshaft hat fortzudauern.
 

Gründe

I.

Der Verfolgte befindet sich seit seiner Festnahme am 30.11.2015 in Auslieferungshaft aufgrund Auslieferungshaftbefehls des Senats vom 18.11.2015. Grundlage desselben ist eine Note der Generalstaatsanwaltschaft der Russischen Föderation an das Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz vom 20.10.2015, mit welchem diese um die Auslieferung des Verfolgten zum Zwecke der Strafverfolgung aufgrund eines am 28.04.2006 in Moskau begangenen Raubüberfalls ersucht. Dem Auslieferungsersuchen sind als Haftanordnung der Beschluss über die Auswahl der Vorbeugungsmaßnahme als Inhaftnahme des Bezirksgerichts Presnenskij der Stadt Moskau vom 15.06.2012, der Beschluss über die Heranziehung des Verfolgten als Beschuldigten der Untersuchungsverwaltung im Untersuchungskomitee der Staatsanwaltschaft der Russischen Föderation in der Stadt Moskau vom 25.06...

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