Entscheidungsstichwort (Thema)

Arglistige Täuschung durch Verschweigen von Vorerkrankungen in der Berufsunfähigkeitsversicherung

 

Leitsatz (amtlich)

1. Behauptet der Versicherungsnehmer, der Agent habe seine Angaben nicht in den Antrag für eine Berufsunfähigkeitsversicherung aufgenommen mit dem (unzutreffenden) Hinweis, der Versicherer werde vor Annahme des Antrags ohnehin Auskünfte zur Krankengeschichte beim behandelnden Arzt einholen, obliegt es dem Versicherer, diese Darstellung zu widerlegen, wenn er eine arglistige Täuschung durch den Versicherungsnehmer geltend macht.

2. Es gibt bei der Aufnahme von Versicherungsanträgen keinen Erfahrungssatz dahingehend, dass ein unredliches Verhalten des Versicherungsnehmers wahrscheinlicher ist als ein unredliches Verhalten des Versicherungsagenten. Vielmehr sind die Umstände des jeweiligen Einzelfalls zu prüfen, wenn der Versicherer behauptet, der Agent habe sich bei der Aufnahme des Antrags korrekt verhalten.

3. Fehlen in einem Versicherungsantrag für eine Berufsunfähigkeitsversicherung schwerwiegende Vorerkrankungen, deren Bedeutung bei Antragstellung für den Versicherungsnehmer auf der Hand liegt, spricht dies unter Umständen eher für ein unredliches Verhalten des Agenten als für ein unredliches Verhalten des Versicherungsnehmers. Denn der Agent kennt die generelle Praxis des Versicherers, der bei einem späteren Leistungsantrag die gesamte Krankengeschichte des Versicherungsnehmers - auch für die Zeit vor Vertragsschluss - durch Auskünfte sämtlicher in Betracht kommenden Ärzte überprüfen wird, mit der naheliegenden Konsequenz einer Arglistanfechtung.

 

Normenkette

BGB § 123 Abs. 1; VVG § 22

 

Verfahrensgang

LG Konstanz (Urteil vom 21.03.2014; Aktenzeichen 2 O 32/13 D)

 

Tenor

1. Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des LG Konstanz vom 21.3.2014 - 2 O 32/13 D - wird zurückgewiesen.

2. Die Beklagte trägt die Kosten des Berufungsverfahrens.

3. Das Urteil des Senats und das Urteil des LG sind vorläufig vollstreckbar ohne Sicherheitsleistung. Die Beklagte kann eine Vollstreckung des Klägers abwenden durch Sicherheitsleistung i.H.v. 110 % des nach dem Urteil des Senats und nach dem Urteil des LG vollstreckbaren Betrages, wenn nicht der Kläger vor der Vollstreckung Sicherheit i.H.v. 110 % des jeweils zu vollstreckenden Betrages leistet.

4. Die Revision wird nicht zugelassen.

 

Gründe

I. Der am 29.7.1982 geborene Kläger stellte am 25.11.2002 bei der Beklagten einen Antrag auf Abschluss einer Berufsunfähigkeitsversicherung. Der Antrag wurde von dem Zeugen J., einem Versicherungsagenten der Beklagten, in der Wohnung des Klägers aufgenommen. Die Beklagte nahm den Antrag am 20.1.2003 an (vgl. die Anlage K 2). Der Kläger hatte einen Beitrag von monatlich 25 EUR zu zahlen. Für den Fall der Berufsunfähigkeit sollte eine monatliche Rente von 411,18 EUR gezahlt werden, und zwar längstens bis zum 1.1.2037. Bestandteil des Vertrages waren die Allgemeinen Bedingungen für die Berufsunfähigkeitsversicherung der Beklagten (Anlage B 3; im Folgenden abgekürzt: BBU).

Der vom Kläger ausgefüllte Antragsvordruck (Anlage B 1) enthielt verschiedene Gesundheitsfragen, mit denen u.a. Krankheiten, Funktionsstörungen etc. aus den letzten zehn Jahren abgefragt wurden. In dem vom Versicherungsagenten ausgefüllten und vom Kläger unterzeichneten Antrag wurde lediglich ein Arbeitsunfall im Juni 2002 angegeben, bei welchem der Kläger eine (geringfügige) Platzwunde erlitten hatte. Unstreitig litt der Kläger zum Zeitpunkt der Antragstellung unter einem sog. essentiellen Tremor, einer chronischen Funktionsstörung, bei welcher die Hände unter bestimmten Voraussetzungen zittern. Außerdem war der Kläger in den Jahren vor Antragstellung häufiger in orthopädischer Behandlung wegen erheblicher Beschwerden. Weder der essentielle Tremor noch die orthopädischen Behandlungen sind im Antragsformular angegeben. Für mögliche Rückfragen der Beklagten zu seinem Gesundheitszustand hatte der Kläger Name und Adresse seines Hausarztes angegeben, der gleichzeitig von der Schweigepflicht entbunden wurde.

Mit Schreiben vom 5.4.2011 machte der Kläger Leistungen aus der Berufsunfähigkeitsversicherung geltend, weil er seit über einem Jahr an einer paranoid-halluzinatorischen Psychose leide und daher seinen Beruf nicht mehr ausüben könne (vgl. die Anlagen K 3 und 4). Auf Anforderung der Beklagten füllte der Kläger ergänzend zu diesem Antrag umfangreiche Formulare (Anlage K 5 und 6) aus, in denen er zum einen seine zuletzt (bis 2009) ausgeübte Tätigkeit als Sachbearbeiter im Wareneingang bei einem größeren Unternehmen (Hersteller von Leuchten und sog. Stadtmobiliar) detailliert beschrieb. Zum anderen gab der Kläger auf Anforderung der Beklagten eine größere Anzahl von Ärzten an, von denen er in der Vergangenheit wegen verschiedenster Beschwerden behandelt wurde. Gleichzeitig entband der Kläger diese Ärzte - entsprechend der Aufforderung der Beklagten im Formular - von der Schweigepflicht.

Mit Schreiben vom 19.8.2011 (Anlage K 8) lehnte die Bek...

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