Leitsatz (amtlich)
Bestehen trotz einer allgemein hohen Übersehensrate eines Verletzungsbildes bei der Primärdiagnostik auf Röntgenbildern (hier: perilunäre Luxation) im konkreten Fall keine Interpretationsmöglichkeiten und keine erschwerte Erkennbarkeit, kann die fehlerhafte Diagnose nicht als vertretbare Deutung der Befunde angesehen werden.
Gelangt der unfallchirurgische Sachverständige zu dem Ergebnis, dass auf Röntgenbildern ein bestimmtes Verletzungsbild klar zu erkennen ist, so bedarf es ohne einen entsprechenden Bedarf aufzeigende konkrete Einwände (ausnahmsweise) keiner ergänzenden Hinzuziehung eines radiologischen Sachverständigen, um zu prüfen, ob auch der Radiologe das Röntgenbild fehlerhaft interpretiert hat.
Bei einer verzögerten Behandlung ist die Rechtsgutverletzung und damit der Primärschaden, auf den sich die haftungsbegründende Kausalität ausrichtet, in der durch den Behandlungsfehler herbeigeführten gesundheitlichen Befindlichkeit in ihrer konkreten Aufprägung zu sehen (hier: Fortbestand der Luxation der Handwurzelknochen).
Welche weiteren gesundheitlichen Folgen eingetreten sind, ist keine Frage der Haftungsbegründung, sondern der Haftungsausfüllung. Insoweit gilt das Beweismaß des § 287 ZPO.
Verfahrensgang
LG Bad Kreuznach (Aktenzeichen 4 O 153/15) |
Tenor
1. Der Senat weist die Parteien darauf hin, dass er beabsichtigt, die Berufung der Beklagten gegen das Urteil der 4. Zivilkammer des Landgerichts Bad Kreuznach vom 21. April 2017 einstimmig gemäß § 522 Abs. 2 ZPO zurückzuweisen.
2. Die Beklagten können zu den Hinweisen des Senats bis zum 14. September 2017 Stellung nehmen. Die Rücknahme der Berufung wird empfohlen.
3. Die Berufungserwiderungsfrist des Klägers wird bis zum 29.09.2017 verlängert.
Gründe
I. Der Kläger verlangt von den Beklagten Schadensersatz sowie die Feststellung der Einstandspflicht für Zukunftsschäden im Zusammenhang mit der Behandlung einer Sturzverletzung.
Am 24. März 2012 stürzte der Kläger von einer Leiter und wurde notfallmäßig im Krankenhaus der Beklagten zu 1) aufgenommen. Es erfolgte eine röntgenologische Untersuchung. Hierzu fertigte die Beklagte zu 4) einen Befundbericht (Bl. 71 GA). Eine Luxation des Handwurzelknochens links wurde nicht beschrieben, aber eine Distorsion am rechten Fußgelenk, eine distale Radiusköpfchenfraktur am rechten Ellenbogengelenk sowie eine erheblich dislozierte Trümmerfraktur am linken Handgelenk diagnostiziert. Noch am Unfalltag operierte der Beklagte zu 2) als Chefarzt der chirurgischen Abteilung den Kläger, wobei keine Versorgung einer Verletzung des Handwurzelknochens erfolgte. Postoperativ kam es am 25. März 2012 zur erneuten Fertigung von Röntgenaufnahmen des linken Handgelenks. Die Auswertung nahm der Beklagte zu 3) als Chefarzt der Radiologie des Klinikums der Beklagten zu 1) vor. Er beschrieb eine regelrechte Aufrichtung der Fraktur mit geringer dorsaler Resteinstauchung und Zurückbildung des Ulnavorschubs. Eine Handwurzelverletzung und Dislokation der Handwurzelknochen wurde nicht festgestellt.
Am 2. April 2012 wurde der Kläger aus der stationären Behandlung entlassen. Es kam zur weiteren ambulanten Behandlung in verschiedenen unfallchirurgischen Gemeinschaftspraxen. Eine am 22. Mai 2012 durchgeführte CT-Untersuchung führte zur Diagnose einer Handwurzelverletzung. Am 6. August 2012 erfolgte ein operativer Eingriff am linken Handgelenk.
Der Kläger hat zur Begründung seines auf Zahlung eines Schmerzensgeldes in einer Mindesthöhe von 10.000 EUR, die Feststellung der Einstandspflicht der Beklagten für alle künftigen materiellen Schäden sowie die Erstattung der entstandenen Rechtsanwaltskosten in Höhe von 1.099,97 EUR gerichteten Begehrens vorgetragen, die Beklagten hätten fehlerhaft die Verletzung des Handwurzelknochens nicht diagnostiziert. Bereits der Röntgenbefund vom 24. März 2012 sei unvollständig und fehlerhaft ausgewertet worden. Auch bei der operativen Versorgung sei die Handwurzelverletzung pflichtwidrig nicht festgestellt und daher nicht versorgt worden. Schließlich hätte spätestens auf den postoperativ angefertigten Röntgenbildern vom 25. März 2012 die Handwurzelverletzung festgestellt werden müssen. Durch die Fehldiagnose sei es zu einer Verzögerung der Behandlung gekommen. Dies habe zu einer erheblichen Bewegungseinschränkung der linken Hand geführt, die im Alltag zahlreiche Erschwernisse mit sich bringe.
Die Beklagten haben dem entgegengehalten, es müsse von einer sekundären Dissoziation ausgegangen werden. Selbst wenn ein Diagnoseirrtum vorliege, sei dieser als nicht zu vertretender Irrtum anzusehen. Die Folgen hätten sich auch bei einer frühzeitigen Versorgung einer mutmaßlichen Verletzung der Handwurzel einstellen können.
Hinsichtlich des weiteren erstinstanzlichen Sach- und Streitstandes sowie der erstinstanzlich von den Parteien gestellten Anträge wird auf den Tatbestand des angefochtenen Urteils (Bl. 201 ff. GA) Bezug genommen.
Das sachverständig beratene Landgericht hat dem Kläger ein Schmerzensgeld in einer Höhe von ...