Entscheidungsstichwort (Thema)
Rechtsfolgen erheblicher Verfahrensverzögerungen in Haftsachen. Aufhebung des Haftbefehls vor Ablauf der Sechsmonatsfrist
Leitsatz (amtlich)
›1. Erhebliche Verfahrensverzögerungen, die aus welchen Gründen auch immer den staatlichen Strafverfolgungsorganen zuzurechnen und für diese vermeidbar gewesen sind, führen zu einer Verletzung des Beschleunigungsgebots in Haftsachen.
2. Die Verletzung des Beschleunigungsgebots durch erhebliche Verfahrensverzögerungen gebietet auch schon vor Ablauf der Sechsmonatsfrist nach § 121 Abs. 1 StPO die Aufhebung des Haftbefehls.‹
Verfahrensgang
LG Koblenz (Entscheidung vom 04.08.2006) |
Gründe
I. Der Angeklagte befand sich aufgrund des Haftbefehls des Amtsgerichts Koblenz vom 20. Januar 2006, der ihm unerlaubtes Handeltreiben mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge im Zeitraum von Mitte Juni bis Mitte August 2005 (zweimal 1 kg Haschisch und 1 kg Amphetamin) vorwarf, seit dem 2. Februar 2006 in Untersuchungshaft. Nach Anklageerhebung, Eröffnung des Hauptverfahrens und Durchführung eines ersten Termins zur Hauptverhandlung am 28. April 2006, der zur Aussetzung der Verhandlung führte, hob der Vorsitzende des zuständigen Jugendschöffengerichts mit Beschluss vom 19. Mai 2006 den Haftbefehl auf und ordnete am selben Tag die Entlassung des Angeklagten aus der Haft an. Zur Begründung seiner Entscheidung führte er aus, es sei eine Verfahrensverzögerung eingetreten, die zu einer Verletzung des Beschleunigungsgebots in Haftsachen führe. Die Verzögerung liege darin, dass die Staatsanwaltschaft trotz mehrfacher Anforderungen Akten anderer Verfahren, deren Beiziehung und Überlassung zur Einsicht die Verteidigerin beantragt hatte, nicht vollständig vorgelegt habe. Infolgedessen könne der für den 30. Mai 2006 eingeplante Hauptverhandlungstermin nicht stattfinden.
Auf Beschwerde der Staatsanwaltschaft, die eine Verletzung rechtlichen Gehörs rügte, hat die Jugendkammer den amtsgerichtlichen Beschluss aufgehoben. Es lägen sowohl dringender Tatverdacht als auch Fluchtgefahr vor. Die Anordnung der Untersuchungshaft sei auch verhältnismäßig. Der Angeklagte habe sich bei Aufhebung des Haftbefehls erst drei Monate und achtzehn Tage in Haft befunden. Wegen fehlender Akteneinsicht der Verteidigerin hätte der Hauptverhandlungstermin vom 30. Mai 2006 nicht abgesetzt werden müssen. Die Gewährung von Akteneinsicht wäre noch rechtzeitig vor dem Termin möglich gewesen. Da aber weniger einschneidende Maßnahmen als der Vollzug der Untersuchungshaft zur Gewährleistung des Verfahrenssicherungszwecks ausreichten, sei der Haftbefehl gegen bestimmte Weisungen außer Vollzug zu setzen.
Gegen die Aufrechterhaltung des Haftbefehls hat nunmehr der Angeklagte Beschwerde eingelegt, mit der eine Verletzung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes rügt.
II. Die Beschwerde hat Erfolg.
Das im Grundsatz der Verhältnismäßigkeit verankerte, unmittelbar aus Art. 2 Abs. 2 S. 2 GG folgende Beschleunigungsgebot in Haftsachen (vgl. BVerfG StV 06, 251, 252; NJW 06, 677, 678, jeweils m.w.N.) steht einer Aufrechterhaltung des Haftbefehls entgegen. Es verlangt bezogen auf das in Rede stehende Strafverfahren, dass die Strafverfolgungsbehörden und Strafgerichte alle möglichen und zumutbaren Maßnahmen ergreifen, um die notwendigen Ermittlungen mit der gebotenen Schnelligkeit abzuschließen und eine gerichtliche Entscheidung über die einem Beschuldigten vorgeworfenen Taten herbeizuführen (BVerfG a.a.O.). Dem wird das Verfahren nicht gerecht.
Gemäß der Planung des Vorsitzenden des Jugendschöffengerichts sollte am 30. Mai 2006 die (zweite) Hauptverhandlung stattfinden und das Verfahren erstinstanzlich mit Verkündung eines Urteils zum Abschluss gebracht werden. Dazu kam es nicht, weil die Staatsanwaltschaft angeforderte Akten nicht innerhalb der vom Gericht gesetzten Frist zur Verfügung gestellt hatte. Das nahm der Vorsitzende zum Anlass, den eingeplanten Termin fallenzulassen. Mit Verfügung vom 5. September 2006 terminierte er die Hauptverhandlung schließlich auf den 2. November 2006. Dadurch verzögert sich der Abschluss des Verfahrens um ca. 5 Monate. Diese Zeitspanne ist erheblich. Die Dauer des gerichtlichen Verfahrens nach Anklageerhebung wird durch sie mehr als verdoppelt.
Ob das Absetzen des Hauptverhandlungstermins aufgrund der nicht fristgerechten Vorlage der Akten durch die Staatsanwaltschaft tatsächlich geboten war, ist unerheblich. Entscheidend ist allein die Tatsache, dass die Verzögerung, aus welchen Gründen auch immer, den staatlichen Strafverfolgungsorganen zuzurechnen und für diese vermeidbar gewesen ist (vgl. BVerfG NJW 2006, 672, 673/674). Das ist hier der Fall. Keinesfalls liegt die Verzögerungsursache im Verantwortungsbereich des Angeklagten.
Ferner ist es ohne Bedeutung, dass der Angeklagte sich bei seiner Entlassung erst drei Monate und achtzehn Tage in Untersuchungshaft befunden hat. Die Verletzung des Beschleunigungsgebots gebietet auch schon vor Ablauf der Sechsmonatsfrist nach § 121 Abs. 1 StPO die...