Entscheidungsstichwort (Thema)
Einwilligungsfähigkeit eines schmerzbeeinträchtigten Patienten
Leitsatz (amtlich)
1. Die Einwilligungsfähigkeit ist beim erwachsenen Menschen die Regel. Stellt der Patient sie in Abrede, muss er sein Vorbringen beweisen, sofern die Gesamtschau der unstreitigen medizinischen Fakten die fehlende Einwilligungsfähigkeit nicht eindeutig indiziert. Einen Erfahrungssatz, dass starke Schmerzen die Einwilligungsfähigkeit immer einschränken oder gar aufheben gibt es nicht.
2. Auch im Arzthaftungsprozess ist nur über den vom Kläger unterbreiteten Streitstoff zu entscheiden. Führt das Gericht seinerseits einen neuen Aspekt ein, den der Patient sich zu eigen macht, ist insoweit eine besonders kritische Beweiswürdigung unter wertender Gesamtschau aller Umstände des Behandlungs- und Prozessverlaufs geboten.
Normenkette
BGB §§ 104, 253, 280, 611, 630d, 823; ZPO §§ 138-139, 253 Abs. 2 Nr. 2, § 286
Verfahrensgang
LG Koblenz (Urteil vom 26.03.2014; Aktenzeichen 10 O 2/12) |
Tenor
1. Auf die Berufung der Beklagten wird das Urteil der Einzelrichterin der 10. Zivilkammer des LG Koblenz vom 26.3.2014 teilweise geändert und die Klage insgesamt abgewiesen.
2. Die Kosten des Rechtsstreits hat die Klägerin zu tragen.
3. Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.
4. Die Revision wird nicht zugelassen.
Gründe
I.1. Die 1946 geborene Klägerin hat in erster Instanz vom beklagten Krankenhaus ein Schmerzensgeld von 10.000 EUR wegen einer am 14.4.2008 durchgeführten Gallenblasenoperation verlangt. Dazu hat die Patientin ursprünglich vorgetragen, über die Gefahr der (unstreitig erfolgten) Verletzung der arteria hapatica dextra sei sie beim Aufklärungsgespräch am 10.4.2008 nicht informiert worden. Gegebenenfalls hätte sie den Eingriff abgelehnt. Die Verletzung habe zum Absterben der rechten Seite der Leber geführt.
2. Die Beklagte hat erwidert, wegen einer äußerst seltenen anatomischen Besonderheit habe der operierende Arzt einen Ast der Arterie in der Annahme durchtrennt, es handele sich um die arteria cystica. Dass es sich um einen Ast der arteria hepatica dextra gehandelt habe, sei nicht erkennbar gewesen. Auch liege kein Aufklärungsversäumnis vor, weil auf die Gefahr von Gefäßverletzungen hingewiesen worden sei. Sehe man insoweit gleichwohl ein Defizit, müsse von einer hypothetischen Einwilligung ausgegangen werden.
3. Das LG, auf dessen Entscheidung zur weiteren Darstellung des Sach- und Streitstandes erster Instanz ebenso Bezug genommen wird wie auf die beigezogenen Krankenunterlagen, hat Sachverständigenbeweis erhoben (Bl. 62 - 71 GA mit mündlicher Anhörung Bl. 182 - 185 GA) und neben dem operierenden Arzt (Bl. 106 - 108 und 111 GA) auch den Ehemann der Klägerin (Bl. 110 GA) als Zeugen zum Inhalt des Aufklärungsgesprächs befragt. Außerdem ist die Klägerin mehrmals nach § 141 ZPO angehört worden (Bl. 108/109 und 181 ff. GA).
Sodann hat die Einzelrichterin darauf hingewiesen, sie halte die Operationseinwilligung der Klägerin für unwirksam, weil die Patientin am 10.4.2008 durch starke Schmerzen derart beeinträchtigt gewesen sei, dass ihr die Einwilligungsfähigkeit gefehlt habe (Hinweis- und Beweisbeschluss vom 26.3.2013 - Bl. 118 - 122 GA). Der Eingriff vom 14.4.2008 sei daher rechtswidrig.
Nach ergänzender Beweiserhebung zu den Operationsfolgen hat die Einzelrichterin der Klägerin unter Klageabweisung im Übrigen ein Schmerzensgeld von 4.000 EUR zuerkannt. Eine wirksame Einwilligung gem. § 630d BGB liege nicht vor, weil die Klägerin beim Aufklärungsgespräch am 10.4.2008 wegen starker Schmerzen nicht einwilligungsfähig gewesen sei. Das erschließe sich auch daraus, dass die Unterschrift der Klägerin auf der Einverständniserklärung "zittrig" sei. Der Eingriff sei auch nicht durch eine mutmaßliche Einwilligung gerechtfertigt.
4. Mit der Berufung beantragt die Beklagte die umfassende Abweisung der Klage. Mangelnde Einwilligungsfähigkeit habe die Klägerin ursprünglich nicht behauptet. Einen derartigen Vorwurf habe erst die Einzelrichterin mit ihrem Hinweisbeschluss vom 26.3.2013 in das Verfahren eingeführt. Einwilligungsfähigkeit sei bei einem erwachsenen Menschen die Regel; behaupte der Patient etwas anderes, sei er dafür beweispflichtig. Fehlende Einwilligungsfähigkeit sei nicht dargelegt, geschweige denn bewiesen. Mit der These von der fehlenden Einwilligungsfähigkeit habe die Einzelrichterin sich ex post nach Aktenlage eine medizinische Fachkompetenz angemaßt, die nur einem fachkundig geschulten medizinischen Sachverständigen zukomme. Letztlich hätte das LG der Frage nachgehen müssen, ob sich dem aufklärenden Arzt Dr. N. die vermeintlich fehlende Einwilligungsfähigkeit der Klägerin erschlossen habe oder hätte erschließen müssen.
5. Die Klägerin verteidigt das angefochtene Urteil nach Maßgabe der Berufungserwiderung vom 30.6.2014, auf die wegen der Einzelheiten verwiesen wird.
II. Die zulässige Berufung ist begründet und führt zu umfassenden Abweisung der Klage.
Ein vertraglicher (§§ 253, 280, 611 BGB) oder gesetzlicher (§ 823 BGB) ...