Entscheidungsstichwort (Thema)

Grober Geburtsbetreuungsfehler einer Hebamme durch Gabe eines die Wehen fördernden Nasensprays

 

Leitsatz (amtlich)

1. Für Fehler einer Hebamme muss der in Rufbereitschaft wartende Belegarzt erst ab dem Zeitpunkt einstehen, in welchem die Leitung der Geburt zu seiner Vertragsaufgabe geworden ist. Durch einen zutreffenden telefonischen Rat wird der Arzt nicht zum verantwortlichen Geburtsleiter.

2. In der bloßen Überschreitung der Entschluss- Entwicklungszeit bei einer Notsectio (hier: um 8 Minuten) liegt nicht ohne weiteres ein Behandlungsfehler.

3. Außer für Mängel der geburtsrelevanten Ausstattung haftet ein Krankenhaus für Versäumnisse von Belegarzt und Beleghebamme selbst dann nicht, wenn die Kindeseltern irrig davon ausgehen, Vertragspartner sei auch der Krankenhausträger.

4. Verabreicht die Hebamme der Gebärenden ein Medikament, das in der konkreten Situation absolut kontraindiziert ist (Nasenspay Syntocinon) steht der Einschätzung dieses Fehlers als grob nicht entgegen, dass der gerichtliche Sachverständige die Applikation durch einen Arzt lediglich als "grenzwertig" bezeichnet hat. Anders als dem Arzt ist es der Hebamme nämlich nicht möglich, einer Entgleisung des Weiteren Geburtsgeschehens durch sofortige Notsectio zu begegnen.

 

Normenkette

BGB §§ 249, 253, 276, 278, 280, 611, 823, 831; ZPO §§ 286-287

 

Verfahrensgang

LG Koblenz (Urteil vom 04.06.2008; Aktenzeichen 10 O 167/05)

 

Tenor

Die Berufungen des Klägers und der Beklagten zu 2) gegen das Urteil der 10. Zivilkammer des LG Koblenz vom 4.6.2008 werden zurückgewiesen.

Die gerichtlichen Kosten des Rechtsmittelverfahrens fallen dem Kläger zu 2/3 und der Beklagten zu 2) zu 1/3 zur Last. Von den außergerichtlichen Kosten des Klägers trägt die Beklagte zu 2) 1/3, die verbleibenden 2/3 dieser selbst. Die außergerichtlichen Kosten der Beklagten zu 1) und zu 3) werden dem Kläger auferlegt. Die Beklagte zu 2) hat selbst für ihre außergerichtlichen Kosten aufzukommen.

Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte zu 2) kann die Zwangsvollstreckung des Klägers und dieser die der Beklagten zu 1) und zu 3) gegen Sicherheitsleistung i.H.v. 110 % des jeweils zu vollstreckenden Betrags abwenden, wenn nicht die andere Seite Sicherheit in gleicher Höhe erbringt.

Die Revision wird nicht zugelassen.

 

Gründe

I. Der Kläger macht im vorliegenden Rechtsstreit gegen die drei Beklagten Schadensersatzforderungen geltend. Er beansprucht eine materielle Ersatzleistung von 175.365,10 EUR, ein Schmerzensgeldkapital von wenigstens 500.000 EUR und eine Schmerzensgeldrente von mindestens 500 EUR im Monat. Darüber hinaus erstrebt er die Feststellung einer weitergehenden Haftung.

Die Inanspruchnahme knüpft an einer schwere zerebrale Schädigung an, mit der der Kläger am 19.3.2004 im Krankenhaus der Beklagten zu 3) geboren wurde. Die Geburtsleitung lag in den Händen des Beklagten zu 1), der als gynäkologischer Belegarzt tätig war. Im Vorfeld war die Mutter des Klägers von der Beklagten zu 2) als Beleghebamme betreut worden.

Sie war am 19.3.2004 um 0.30 Uhr im Krankenhaus der Beklagten zu 3) eingetroffen. Um 2.00 Uhr informierte die Beklagte zu 2) den noch ortsabwesenden Beklagten zu 1) über die wiederkehrenden Dezelerationen in der kindlichen Herzfrequenz, worauf dieser ein engmaschiges CTG anordnete. Sie rief ihn dann um 4.30 Uhr herbei, nachdem sich die Herztöne mittlerweile verschlechtert hatten. Dabei wies sie zusätzlich auf den Verdacht eines Missverhältnisses zwischen dem Kopf des Klägers und dem Beckenausgang hin, das einen Austritt hindere. Eine knappe Stunde zuvor hatte sich der Muttermund geöffnet und die Blase war unter Erguss von klarem Fruchtwasser geplatzt.

Ehe der Beklagte zu 1) um 4.45 Uhr erschien, verabreichte die Beklagte zu 2) der Kindsmutter das Nasenspray Syntocinon, um die Wehentätigkeit zu fördern. Der Beklagte zu 1) teilte die ihm vermittelte Situationseinschätzung und entschloss sich zu einer Sectio, deren Notwendigkeit durch eine wenig später auftretende Bradykardie bestätigt wurde. Das Operationsteam war um 5.00 Uhr vor Ort. Die Mutter des Klägers wurde um 5.08 Uhr in den Operationssaal eingeschleust und um 5.10 narkotisiert. Um 5.18 Uhr wurde mit dem Eingriff begonnen und der Kläger um 5.23 Uhr entwickelt. Er war ohne Herzschlag und Atmung. Man registrierte einen Apgar von 0-1-3 und hielt einen venösen Nabelschnur-pH-Wert von 7,28 fest.

Der Kläger sieht die Ursache seiner Schädigung in einem der Geburt kurzfristig vorangegangenen hypoxischen Geschehen, das die Beklagten zu verantworten hätten. Mangels einer Aufnahmeuntersuchung im Krankenhaus und nachfolgender Blutanalysen sowie in unangemessener Vernachlässigung der Pulsdezelerationen sei die Schnittentbindung viel zu spät angegangen worden. Der Beklagte zu 1) habe früher vor Ort sein und die Entschließung zur Sectio schneller umgesetzt werden müssen. Schadensträchtig sei auch die Gabe von Syntocinon gewesen.

Das LG hat einen gynäkologischen und einen neuropädiatrischen Sachverständigen be...

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