Leitsatz (amtlich)
1. Einer Entscheidung über die Frage des Nutzen-Risiko-Verhältnisses im Rahmen der Prüfung eines Anspruchs nach § 84 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 AMG sind die Erkenntnisse im Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung bezogen auf den Zeitpunkt der Anwendung des Arzneimittels zugrunde zu legen.
2. Mit dem Feststellen einer wirksamen arzneimittelrechtlichen Zulassung durch die Europäische Kommission steht zugleich das Vorliegen eines positiven Nutzen-Risiko-Verhältnisses des Arzneimittels fest. Der Rechtsschutz des Einzelnen wird durch § 25 Abs. 10 AMG gewahrt. Die Bindungswirkung der Zulassungsentscheidung kann im Zivilprozess infrage gestellt werden, wenn substantiiert dargelegt wird, dass dem Hersteller bereits bekannte Umstände bei der Zulassungsentscheidung nicht berücksichtigt wurden, bei deren Berücksichtigung eine andere Zulassungsentscheidung gerechtfertigt gewesen wäre, oder wenn dargelegt wird, dass nach der Zulassung des Arzneimittels Nebenwirkungen bekannt geworden sind, deren frühere Kenntnis einer Zulassung entgegengestanden hätte.
3. Die Einschätzungen des Ausschusses für Risikobewertung im Bereich der Pharmakovigilanz, PRAC, und des Ausschusses für Humanarzneimittel, CHMP, als Organe der Europäischen Arzneimittelagentur (EMA) sowie des nationalen Paul-Ehrlich-Instituts (PEI) stehen einer sachverständigen Begutachtung gleich und vermitteln dem Gericht die notwendige Fachkenntnis, um die Frage des Nutzen-Risiko-Verhältnisses im Rahmen eines Anspruchs nach § 84 Abs. 1 AMG beantworten zu können.
4. Eine Haftung des pharmazeutischen Unternehmers nach § 84 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AMG setzt voraus, dass der Schaden auf der Anwendung des Arzneimittels beruht und zugleich infolge einer fehlerhaften Arzneimittelinformation eingetreten ist (doppelte Kausalität). Der Geschädigte hat darzulegen und zu beweisen, dass der Schaden nicht eingetreten wäre, wenn die Arzneimittelinformation erschöpfend und zutreffend gewesen wäre (Anschluss an BGH, Urteil vom 24.01.1989 - VI ZR 112/88).
Normenkette
AMG §§ 5, 11, 11a, 25, 84, 84a; BGB § 823 Abs. 2; EGV 726/2004; Richtlinie 85/374/EWG; ProdHaftG § 15
Verfahrensgang
LG Mainz (Urteil vom 14.11.2023; Aktenzeichen 9 O 37/23) |
Tenor
1. Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil der 9. Zivilkammer des Landgerichts Mainz vom 14.11.2023, 9 O 37/23, wird zurückgewiesen.
2. Die Klägerin hat die Kosten des Berufungsverfahrens zu tragen.
3. Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar. Die Klägerin kann die Vollstreckung der Beklagten abwenden gegen Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des aufgrund des Urteils vollstreckbaren Betrags, wenn nicht die Beklagte zuvor Sicherheit in Höhe von 110 % des jeweils zu vollstreckenden Betrags geleistet hat.
4. Die Revision wird zugelassen.
5. Der Streitwert für das Berufungsverfahren wird auf 130.000 EUR festgesetzt.
Gründe
I. Die Parteien streiten um Schmerzensgeld- und Schadensersatzansprüche infolge eines von der Klägerin behaupteten Impfschadens.
Die Klägerin erhielt am 31.08.2021 ihre erste und am 30.09.2021 ihre zweite Corona-Schutzimpfung mit dem Impfstoff Comirnaty. Dieser Impfstoff hatte am 21.12.2020 von der Europäischen Kommission die bedingte zentrale arzneimittelrechtliche Zulassung erhalten und mit Durchführungsbeschluss vom 10.10.2022 die Standardzulassung, die nicht jährlich erneuert werden muss. Die Beklagte ist Herstellerin des Impfstoffs und Inhaberin der Zulassung. Im Kindesalter war bei der Klägerin ein kombinierter Entwicklungsrückstand mit Tiefpunkt in der motorischen Entwicklung festgestellt worden.
Die Klägerin hat erstinstanzlich zur Begründung ihrer auf die Zahlung von Schmerzensgeld und der Feststellung der künftigen Einstandspflicht der Beklagten für weitere Schäden gerichteten Klage vorgetragen, sie habe sich nicht aus freien Stücken, sondern lediglich aus einem gesellschaftlichen Druck heraus impfen lassen, insbesondere um ihre schwangere Schwester besuchen zu können und nicht aus dem alltäglichen Leben ausgeschlossen zu werden. Drei Tage nach der ersten Impfung seien starke Kopfschmerzen und ein Schwindelgefühl (Drehschwindel) aufgetreten. Fünf Tage nach der ersten Impfung sei es ihr so schlecht gegangen, dass sie von ihrem Praktikumsplatz habe abgeholt werden müssen. Nach der zweiten Impfung hätten sich die Beschwerden erheblich verschlimmert. Das rezidivierende Schwindelgefühl sei so stark geworden, dass sie sich kaum noch auf den Beinen habe halten können. Ihr Gangbild sei unsicherer geworden, sie sei fallgeneigt gewesen und habe oft gestützt werden müssen. Das Schwindelgefühl halte bis heute an. Sie sei seit der Impfung immer sehr müde und habe auf Grund der weitreichenden Beeinträchtigungen kaum noch Bewegung, was dazu führe, dass inzwischen mit jeder Belastung ein sehr starker Anstieg der Herzfrequenz einhergehe. Im Mai 2022 sei es zu einer Verschlechterung des Stuhlgangs und dem Auftreten verschiedener Hautausschläge gekommen. Außerdem sei eine Gangstörung diagnostiziert worden. Sie leide fast durchgängig an...