Entscheidungsstichwort (Thema)
Aufklärungszeitpunkt bei einer nicht dringlichen Operation; Schmerzensgeldbemessung bei Leistenbruchoperation mit schwerwiegenden Folgen
Leitsatz (amtlich)
1. Bei einer nicht dringlichen Operation (hier: Leistenhernie bei einem 35-Jährigen) wahrt die erst am Tag des Eingriffs erfolgte Aufklärung nicht das Selbstbestimmungsrecht des Patienten. Beweispflichtig für die Aufklärung am Vortag ist der Arzt.
2. Zur Beweiswürdigung bei mehrdeutiger Urkunde und widerstreitenden Zeugenaussagen zum Aufklärungszeitpunkt.
3. 20.000 EUR Schmerzensgeld bei extremen Schmerzen, Folgeoperation mit Hodennekrose, Resektion, Anlage einer Prothese und Impotenz.
Normenkette
BGB §§ 276, 278, 823, 847; ZPO § 286
Verfahrensgang
LG Koblenz (Urteil vom 22.04.2005; Aktenzeichen 10 O 211/03) |
Tenor
Auf die Berufung des Klägers wird das Urteil des LG Koblenz vom 22.4.2005 geändert:
Die Beklagte wird verurteilt, an den Kläger 20.000 EUR nebst Zinsen i.H.v. 5 %-Punkten über dem jeweiligen Basiszinssatz zu zahlen seit dem 17.6.2003.
Es wird festgestellt, dass die Beklagte verpflichtet ist, alle dem Kläger zukünftig noch entstehenden immateriellen Schäden, soweit diese nicht vom Klageantrag zu 1) miterfasst und nicht vorhersehbar sind, sowie alle zukünftig noch entstehenden materiellen Schäden, die ihm aus der stationären Behandlung in der Zeit vom 5.3.2002 bis 12.3.2002 entstanden sind, zu ersetzen, soweit diese Ansprüche nicht auf Träger der Sozialversicherung oder Sozialhilfe übergegangen sind oder noch übergehen werden.
Im Übrigen werden die Berufung und die Klage zurück gewiesen.
Von den Kosten beider Rechtszüge tragen der Kläger ¼, die Beklagte ¾.
Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.
Jede Partei kann die Vollstreckung durch die Gegenseite gegen Sicherheitsleistung i.H.v. 110 % des jeweils zu vollstreckenden Betrages abwenden, sofern nicht die Gegenseite zuvor Sicherheit in gleicher Höhe leistet.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Gründe
I. Bei dem am 9.1.1967 geborenen Kläger trat nach Voroperationen in den Jahren 1997 und 1999 erneut eine Leistenhernie rechts auf, die ihm stärkere Schmerzen bereitete. Er wurde am 5.3.2002 in dem von der Beklagten betriebenen Krankenhaus in der Abteilung für Viszeral- und Gefäßchirurgie aufgenommen und am selben Tag operiert. Am Vortag (4.3.2002) hatte der Kläger die Ambulanz der Beklagten aufgesucht. Ob er an diesem Tag untersucht und über die geplante Operation aufgeklärt wurde, ist streitig.
Das LG hat nach Einholung des Gutachtens des Sachverständigen Dr. M. vom 10.5.2004 die Klage abgewiesen. Ein Behandlungsfehler sei nicht vorgekommen. Aufgrund der Vernehmung des Zeugen Prof. Dr. S. sei davon auszugehen, dass der Kläger von diesem am Vortag genügend über die Risiken der geplanten Operation aufgeklärt worden sei. Der nach Schluss der mündlichen Verhandlung eingereichte Schriftsatz des Klägers vom 12.4.2005 gebiete die Wiedereröffnung der Verhandlung nicht.
Mit der Berufung rügt der Kläger, das LG habe die gebotene weitere Sachaufklärung unterlassen.
Er beantragt, die Beklagten zu verurteilen, an ihn ein angemessenes Schmerzensgeld, dessen Höhe in das Ermessen des Gerichts gestellt wird, nebst 5 % Zinsen über dem jeweiligen Basiszinsatz seit dem 17.6.2003 zu zahlen, festzustellen, dass die Beklagte verpflichtet ist, alle dem Kläger zukünftig noch entstehenden immateriellen Schäden, soweit diese nicht vom Klageantrag zu 1) miterfasst und nicht vorhersehbar sind, sowie alle zukünftig noch entstehenden materiellen Schäden, die ihm aus der stationären Behandlung in der Zeit vom 5.3.2002 bis 12.3.2002 entstanden sind, zu ersetzen, soweit diese Ansprüche nicht auf Träger der Sozialversicherung oder Sozialhilfe übergegangen sind oder noch übergehen werden.
Die Beklagte beantragt, die Berufung zurückzuweisen.
Entgegen seiner Behauptung sei der Kläger am Vortag und nicht erst am Operationstag untersucht und aufgeklärt worden. Fehler seien weder bei der Operation noch danach vorgekommen.
Der Senat hat ergänzend Beweis erhoben durch die Vernehmung der Ehefrau des Klägers, sowie seine Anhörung in Gegenüberstellung mit dem Zeugen Prof. Dr. S. auf die Sitzungsniederschrift vom 24.11.2005 (Bl. 316-330 GA) wird Bezug genommen.
II. Die zulässige Berufung hat weitgehend Erfolg. Sie führt zur Änderung des erstinstanzlichen Urteils, zur Zuerkennung eines Schmerzensgeldes von 20.000 EUR und des Feststellungsantrags. Im Übrigen sind Klage und Berufung zurückzuweisen.
Aufgrund der vom Senat durchgeführten Beweisaufnahme steht nicht fest, dass der für die beweispflichtige Beklagte handelnde Chefarzt, der Zeuge Prof. Dr. S., den Kläger rechtzeitig vor dem operativen Eingriff am 5.3.2002 über die Risiken der Leistenbruchoperation aufgeklärt hat. Ob die Aufklärung im Übrigen umfassend und verständlich genug war und/oder ob ein Behandlungsfehler vorgekommen ist, bedarf daher keiner Entscheidung. Für das Versäumnis ihres Chefarztes hat die Beklagte gem. §§ 823, 847, 31 BGB einzustehen.
Nach der ständigen Rechtsprec...