Entscheidungsstichwort (Thema)
Beweiswert der ärztlichen Dokumentation für die Dosierung eines Neuroleptikums; unterlassene EKG-Kontrolle als Befunderhebungsversäumnis; gleichwohl keine Arzthaftung bei fehlender Wahrscheinlichkeit eines reaktionspflichtigen Befundes
Leitsatz (amtlich)
1. Hat ein Neurologe dokumentiert, sein Patient habe ein Neuroleptikum in bestimmter Dosierung eingenommen, ist der Arzt im Rechtsstreit mit dem Einwand präkludiert, Verordnungen für eine derart hohe und langdauernde Medikation habe er nicht ausgestellt und es sei auch ausgeschlossen, dass der Patient sich das verschreibungspflichtige Medikament über einen anderen Arzt beschafft habe.
2. Ein Befunderhebungsversäumnis (hier: halbjährliche EKG-Kontrolle bei Medikation von Amisulprid 200), bleibt ohne haftungsrechtliche Folgen, wenn nach sachverständiger Einschätzung der Fehler nicht als grob qualifiziert werden kann und darüber hinaus ein reaktionspflichtiger Befund nicht wahrscheinlich ist.
3. Wegen der in § 24b Abs. 2 AMG bestimmten Zulassungserfordernisse eines Generikums, kann dessen Verordnung (statt des Originalpräparats Solian(r)) dem Arzt nur dann angelastet werden, wenn der Patient darlegt und erforderlichenfalls beweist, aufgrund welcher konkreten Umstände sich dem Arzt Bedenken gegen das Generikum aufdrängen mussten.
4. Zur ärztlichen Aufklärungspflicht und zur Frage der hypothetischen Einwilligung, wenn mehrere Medikamente mit identischem oder vergleichbarem Wirkstoff zur Verfügung stehen.
Normenkette
BGB §§ 249, 253, 280, 611, 823 Abs. 1, § 630h Abs. 5 S. 2; ZPO § 286; AMG § 24b Abs. 2
Verfahrensgang
LG Bad Kreuznach (Urteil vom 31.08.2012; Aktenzeichen 3 O 70/10) |
Tenor
Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil der 3. Zivilkammer des LG Bad Kreuznach vom 31.8.2012 wird zurückgewiesen.
Die Kosten des Berufungs- sowie des Revisionsverfahrens (VI ZR 106/13) trägt die Klägerin.
Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar. Die Klägerin kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des aufgrund des Urteils vollstreckbaren Betrages abwenden, soweit nicht der Beklagte vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 110 % des jeweils zu vollstreckenden Betrages leistet. Das angefochtene Urteil ist ohne Sicherheitsleistung vorläufig vollstreckbar.
Gründe
I. Die Klägerin nimmt die Beklagten aus eigenem, ererbtem und abgetretenem Recht wegen fehlerhafter ärztlicher Behandlung ihres am 17.10.2005 verstorbenen Sohnes auf materiellen und immateriellen Schadensersatz in Anspruch. Die Beklagten führen in I. eine Gemeinschaftspraxis, in der der Beklagte zu 1) als Facharzt für Neurologie und Psychiatrie tätig ist.
Der 1975 geborene Sohn der Klägerin war psychisch krank gewesen ("Psychose aus dem schizophrenen Formenkreis") und deshalb mehrfach, auch stationär, behandelt worden. Zuletzt wurde er am 28.01.2004 aus der Klinik R. in H. entlassen. Er suchte den Beklagten zu 1) zumindest am 25.07.2003, am 22.12.2004, am 18.05.2005 und am 24.08.2005 auf. Am 22.12.2004 übergab der Beklagte zu 1) dem Sohn der Klägerin 80 Tabletten Amisulprid 200.
Am Morgen des 17.10.2005 fand die Klägerin ihren Sohn leblos in seinem Bett liegend. Im Bad fand man Erbrochenes. Bei rechtsmedizinischen Untersuchungen wurde ein Amisulpridwirkspiegel am oberen Grenzwert des Wirkbereiches, der bei 0,1 bis 0,4 mg/l liegt, festgestellt und ein rhythmogenes Herzversagen nach Einnahme von Amisulprid als naheliegende Todesursache angenommen. Eine weiter gehende rechtsmedizinische Aufklärung fand nicht statt.
Die Klägerin wirft dem Beklagten zu 1) eine mangelhafte Risiko- und Sicherungsaufklärung sowie eine unzureichende Befunderhebung vor. Der Beklagte zu 1) habe ihren Sohn nicht über das Risiko der Herzreizleitungsstörung aufgeklärt.
Die Beklagte zu 2) hafte als Partnerin der Gemeinschaftspraxis und Mitgesellschafterin.
Die resorptions- und pharmakobiologischen Verhältnisse des Medikamentes "Amisulprid" seien andere als die des Medikamentes "Solian(r)", welches ihrem Sohn im Rahmen seines stationären Klinikaufenthaltes in H. verabreicht worden sei. Weder sei die erforderliche halbjährliche EKG-Untersuchung ihres an einer Bradykardie erkrankten Sohnes durchgeführt, noch sei ein Medikamentenspiegel veranlasst worden. Bei Hinweisen auf die Nebenwirkungen des verabreichten Generikums hätte sich ihr Sohn für dessen Absetzung und für ein anderes Medikament entschieden.
Die Beklagten treten dem entgegen. Der Sohn der Klägerin sei jeweils spontan und ohne Termin erschienen. Eine kontinuierliche Therapie habe nicht stattgefunden. Eine stationäre Einweisung habe er abgelehnt. Die Medikamentendosis habe unterhalb der nach dem Klinikaufenthalt verordneten Dosis gelegen. Die Aufklärung über das wirkstoffgleiche Medikament sei bereits in der Klinik in H. erfolgt. Dort habe eine zweimalige EKG-Untersuchung keine bradykarden Herzrhythmusstörungen gezeigt. Ebenso wenig habe es Hinweise für eine "QT-Zeit-Verlängerung" gegeben. Es fehle an einer entsprechenden Dokumentation. Wegen der Sinu...