Entscheidungsstichwort (Thema)
Arzthaftung. Aufklärungspflicht bei Behandlungsalternative. Weiterbildungspflicht und Zeitspanne für die Umsetzung neuer Erkenntnisse. Schmerzensgeldbemessung bei PONV
Leitsatz (amtlich)
1. Besteht eine Behandlungsalternative, über die der Patient informiert ist, darf der Arzt eine konkrete Empfehlung aussprechen. Liegt diese Empfehlung unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls im Rahmen des medizinisch Vertretbaren, ist die therapeutische Aufklärung nicht zu beanstanden.
2. Ein Arzt ist verpflichtet, sich auf seinem Fachgebiet regelmäßig weiterzubilden. In führenden Fachzeitschriften publizierte neue Erkenntnisse muss er zeitnah im Berufsalltag umsetzen, wenn sie wissenschaftlich gesichert sind.
3. Von der Einschätzung des medizinischen Sachverständigen, ein ärztliches Versäumnis sei nicht als grober Behandlungsfehler zu werten, darf das Gericht abweichen, wenn es dafür keiner medizinischen Fachkunde bedarf (hier: einschlägige Fachpublikation bleibt Monate später unbeachtet).
4. Dreitägige anästhesiebedingte postoperative Übelkeit (sogenannte PONV), die durch Gabe eines weiteren Medikamentes vermeidbar gewesen wäre, kann ein Schmerzensgeld von 1000 € rechtfertigen.
Normenkette
BGB §§ 253, 276, 278, 280, 611, 823, 831
Verfahrensgang
LG Mainz (Entscheidung vom 15.11.2011; Aktenzeichen 2 O 414/05) |
Tenor
1. Auf die Berufung der Klägerin wird das Urteil der 2. Zivilkammer des Landgerichts Mainz vom 15. November 2011 teilweise geändert und wie folgt neu gefasst:
Die Erstbeklagte wird verurteilt, an die Klägerin ein Schmerzensgeld von 1.000 EUR zu zahlen.
Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
2. Die weiter greifende Berufung wird zurückgewiesen.
3. Die Klägerin hat die gesamten außergerichtlichen Kosten des Zweitbeklagten und 5/6 der außergerichtlichen Kosten der Erstbeklagten sowie 11/12 der Gerichtskosten zu tragen. 1/12 der Gerichtskosten und der außergerichtlichen Kosten der Klägerin fallen der Erstbeklagten zur Last. Ihre verbleibenden außergerichtlichen Kosten tragen die Klägerin und die Erstbeklagte selbst.
4. Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.
5. Die Revision wird nicht zugelassen.
Gründe
I. Wegen einer am 1. März 2005 durchgeführten Operation nimmt die seinerzeit 46-jährige Klägerin das beklagte Krankenhaus und den dort als Gynäkologen tätigen Zweitbeklagten auf Zahlung eines Schmerzensgeldes von 6.000 EUR in Anspruch. Bei dem Eingriff wurde die Gebärmutter entfernt. Dass dies indiziert war, ist außer Streit.
Da die Klägerin von gelegentlichem unkontrolliertem Abgang von Urin berichtet hatte, nahm man beim selben Eingriff eine Unterpolsterung des Harnleiters mit einem TVT - Band vor. Die Intubationsnarkose, die als totale intravenöse Anästhesie mit Propofol und Remifentanil durchgeführt wurde, bewirkte postoperativ heftige Übelkeit mit Erbrechen, was bis zum 3. März 2005 andauerte. Im Vorfeld des Eingriffs hatte die Klägerin darauf hingewiesen, dass sie die üblichen Narkosemittel nicht vertrage. Außerdem litt die Klägerin nach dem Eingriff langfristig unter Unterleibsschmerzen, insbesondere beim Geschlechtsverkehr. Da sich um das TVT - Band keine Schleimhaut gebildet hatte, musste am 22. Juni 2006 andernorts ein Revisionseingriff durchgeführt werden.
Die Klägerin hat den Beklagten Aufklärungsversäumnisse, insbesondere über eine Behandlungsalternative, und Fehler bei der Operation angelastet. Auch sei bei der Gabe der Anästhetika versäumt worden, ein weiteres Medikament zu verabreichen, das die zweitägige Übelkeit mit Erbrechen sicher vermieden hätte.
Die Beklagten haben erwidert, die Aufklärung der Klägerin sei weder unvollständig noch fehlerhaft gewesen. Auch die Medikation in Vorbereitung, Durchführung und Ausleitung der Anästhesie sei sachgemäß unter Beachtung der bekannten Überempfindlichkeit der Klägerin erfolgt.
Das Landgericht, auf dessen Entscheidung zur weiteren Darstellung des erstinstanzlichen Sach- und Streitstandes Bezug genommen wird, hat Zeugenbeweis erhoben, die Klägerin nach § 141 ZPO angehört und gynäkologische sowie anästhesiologische Sachverständigengutachten eingeholt und diese mündlich erläutern lassen.
Hiernach hat es die Klage mit der Begründung abgewiesen, die Scheidenplastik mittels TVT - Band sei indiziert gewesen und nicht fehlerhaft vorgenommen worden. Richtig sei zwar, dass eine Stressharninkontinenz vom Grad 1 auch konservativ behandelt werden könne. Indes habe es hier wegen der ohnehin anstehenden Gebärmutterentfernung nahe gelegen, im selben Eingriff auch die Harninkontinenz operativ zu beseitigen, da dies der Klägerin mit ihrer bekannten Allergie gegen Narkosemittel einen eventuell erforderlichen Zweiteingriff nach Scheitern der konservativen Therapie erspart habe. Auch die Risikoaufklärung sei nicht zu beanstanden. Die schmerzende Erosion der Vaginalwand über dem TVT - Band sei mit dem Begriff "Wundheilungsstörung" im Aufklärungsbogen hinreichend umschrieben. Auch bei den weiteren Komplikationen handele es sich um Operationsfolgen, die tro...