Entscheidungsstichwort (Thema)
Haftung des Zahnarztes für eine möglicherweise rechtswidrige Zahnextraktion bei identischem alternativen Kausalverlauf – fehlender Entscheidungskonflikt
Leitsatz (amtlich)
1. Ein Zahnarzt im Bereitschaftsdienst, der einem Patienten möglicherweise rechtswidrig einen Zahn extrahiert, haftet nicht, wenn feststeht, dass wenig später derselbe Erfolg eingetreten wäre, indem der Hauszahnarzt denselben Rat erteilt und der umfassend informierte Patient ihn befolgt hätte.
2. Der alternative Kausalverlauf ist in einem derartigen Fall zu berücksichtigen, ohne dass des beklagte Arzt sich darauf berufen muss.
Normenkette
BGB §§ 249, 276, 823; ZPO §§ 138-139, 278 Abs. 3, § 286
Verfahrensgang
LG Koblenz (Aktenzeichen 10 O436/99) |
Tenor
I. Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil der 10. Zivilkammer des LG Koblenz vom 14.11.2000 wird zurückgewiesen.
II. Die Kosten des Berufungsverfahrens fallen der Klägerin zur Last.
III. Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.
Tatbestand
Die Klägerin begab sich am 2.2.1999 in die zahnärztliche Praxis des Beklagten, der daraufhin den schmerzenden Zahn 45 extrahierte. Aus der Sicht des Beklagten war der Zahn nicht mehr erhaltenswert. Zu einem entsprechenden Urteil war Dr. L, der die Klägerin zuvor als Hauszahnarzt versorgt hatte und seinerzeit urlaubsabwesend war, bereits mehrere Monate zuvor gelangt. Auf eine alternative Behandlungsmöglichkeit wies der Beklagte nicht hin.
Im vorliegenden Rechtsstreit erstrebt die Klägerin die Verurteilung des Beklagten zur Zahlung eines Schmerzensgeldes von 5.000 DM nebst Zinsen und die Feststellung von dessen Ersatzpflicht für künftige materielle und immaterielle Schäden. Das LG hat dieses Verlangen nach Vernehmung des Hauszahnarztes Dr. L und der Zahnärztin Lo, die die Klägerin im Nachhinein konsultierte, sowie nach der Einholung eines Sachverständigengutachtens abgewiesen. Es hat gemeint, dass die Extraktion objektiv indiziert gewesen sei und dem Beklagten – mangels echter Behandlungsalternative – keine Aufklärungspflichtverletzung anzulasten sei.
Das greift die Klägerin mit der Berufung an und verfolgt ihr erstinstanzliches Klageziel weiter. Sie wirft dem Beklagten vor, sie nicht darüber unterrichtet zu haben, dass der Zahn hätte erhalten werden können. Unabhängig davon habe der Beklagte versäumt, ihr eine vorübergehende Schmerztherapie bis zur Urlaubsrückkehr Dr. L.’s anzubieten. Wäre dies geschehen, hätte sie sich noch von Dr. L. beraten lassen können.
Entscheidungsgründe
Die Berufung ist ohne Erfolg. Das LG hat die Klage im Ergebnis zu Recht abgewiesen. Die Klägerin kann den Beklagten weder unter dem Gesichtspunkt der positiven Vertragsverletzung noch aus unerlaubter Handlung auf materiellen oder immateriellen Schadensersatz in Anspruch nehmen.
1. Diese Entscheidung ist unabhängig davon, ob – wie das LG gemeint hat – der Beklagte seinen Aufklärungspflichten genügte und deshalb eine rechtswirksame Einwilligung der Klägerin in die Extraktion des Zahns 45 vorlag. Der Beklagte haftet nämlich auch dann nicht, wenn er die Klägerin unzulänglich aufgeklärt haben sollte, indem er nicht die Möglichkeit ansprach, den Zahn über die Aufbereitung des Wurzelkanals und eine Wurzelspitzenresektion zu retten. Denn bei einem entsprechenden Hinweis hätte sich für die Klägerin letztlich nichts geändert. Deshalb könnte sich der Beklagte erfolgreich damit verteidigen, dass der Aufklärungsmangel am Ende nicht schadensträchtig war (Einwand rechtmäßigen Alternativverhaltens).
a) Es spricht bereits vieles dafür, dass die Klägerin den Beklagten auch in Kenntnis der Behandlungsalternative darum gebeten hätte, den Zahn zu ziehen. Wäre sie nämlich auf diese Alternative und, damit zusammenhängend, auf die inne wohnenden Risiken aufmerksam gemacht worden, hätte sie lediglich vor einer Wahl gestanden, die bei vernünftiger Betrachtung keine realistische Option bot. Der Sachverständige Dr. B. hat ausgeführt, der Versuch, den Zahn zu erhalten, hätte ohne Weiteres fehlschlagen können. Die Erfolgsquote derartiger Maßnahmen werde in der Fachliteratur in einer großen Schwankungsbreite, nämlich zwischen 24 % und 89 %, angegeben. Dabei habe die Erfolgschance dem operativen Risiko gegenüber gestellt werden müssen, das gerade bei dem Zahn 45 sehr hoch gewesen sei. Risikofaktoren sei namentlich eine Schädigung des nervus mentalis mit der Folge von Gefühlsstörungen der Wange und Lippe, von Blutungen, einer Verletzung des gesunden Nachbarzahns und einer Wundinfektion gewesen. Vor diesem Hintergrund hat Dr. B. geäußert: „Zusammenfassend muss festgestellt werden, dass … die Entfernung des Zahnes die dem Fall adäquate Entscheidung war.”
b) Das indiziert eine entsprechende Entscheidung der Klägerin auch bei einer weitergehenden Information, als sie von Seiten des Beklagten erfolgte. Indessen kommt es auf eine solche Erwägung nicht einmal an. Von daher erübrigt sich auch eine ergänzende Befragung des Sachverständigen Dr. B., die die Parteien angeregt haben. Man kann nämlich gleicher...