Entscheidungsstichwort (Thema)

Spritzenabszess in einer Arztpraxis mit Hygienemängeln

 

Leitsatz (amtlich)

Kommt es nach einer Injektion zu einem Spritzenabszess und steht fest, dass es in der Arztpraxis gravierende Hygienemängel gab, muss der Arzt beweisen, dass der Schaden auch bei Beachtung der maßgeblichen Hygieneregeln eingetreten wäre.

 

Normenkette

BGB §§ 276, 278, 611, 823, 847; ZPO §§ 286-287

 

Verfahrensgang

LG Bad Kreuznach (Urteil vom 18.10.2006; Aktenzeichen 2 O 114/02)

 

Nachgehend

BGH (Urteil vom 20.03.2007; Aktenzeichen VI ZR 158/06)

 

Tenor

Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil der 2. Zivilkammer des LG Bad Kreuznach vom 18.10.2006 wird zurückgewiesen.

Die Kosten des Berufungsverfahrens fallen den Beklagten als Gesamtschuldnern zur Last.

Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar. Die Beklagten können jedoch die Zwangsvollstreckung der Klägerin gegen Sicherheitsleistung i.H.v. 110 % des Vollstreckungsbetrags abwenden, wenn nicht die Klägerin Sicherheit in entsprechender Höhe stellt.

Die Revision wird zugelassen.

 

Gründe

I. Die Klägerin suchte am 9.6.1999 wegen einer Halsstarre die orthopädische Arztpraxis der Beklagten zu 3) und zu 4) auf, in der seinerzeit die Beklagten zu 1) und zu 2) als Vertreter Dienst hatten. Sie erhielt dort von dem Beklagten zu 1) eine Injektion in den Nacken. Zwei Tage darauf geschah dies erneut. Am 15.6.1999 setzte der Beklagte zu 2) eine Spritze. Spätestens unmittelbar danach stellten sich bei der Klägerin im Nackenbereich von Schüttelfrost und Schweißausbrüchen begleitete Schmerzen ein. Deshalb wurde der Ehemann der Klägerin am 18.6.1999 bei dem Beklagten zu 4) vorstellig. Dieser gab ihm eine Salbe mit.

Am 22.6.1999 erschien die Klägerin persönlich. Der Beklagte zu 4) verschrieb ihr zunächst Tabletten. Als ihm am Folgetag das Ergebnis einer Blutuntersuchung vorlag, wies er sie in ein Krankenhaus ein. Bei der Klägerin hatte sich ein Spritzenabszess gebildet, der nunmehr geöffnet und dann behandelt wurde. Das geschah bis zum 6.7.1999 stationär und anschließend, überwiegend in der Praxis der Beklagten zu 3) und zu 4), ambulant. In den Jahren 2000 und 2001 kam es zu erneuten Klinikaufenthalten, denen die Unterbringung in einer Rehabilitationseinrichtung nachfolgte.

Die Klägerin, die ursprünglich einen Catering-Betrieb geleitet hatte, übte ihren Beruf im Anschluss an die Spritzenbehandlung von Juni 1999 zunächst längerfristig nicht mehr aus. Von Mitte Oktober bis Ende Dezember 1999 und von Mitte Mai 2000 bis Mitte Februar 2001 arbeitete sie wieder, ehe sie ihre Tätigkeit dauerhaft einstellte. Sie ist ihrer Darstellung nach, bedingt durch anhaltende Schmerzen, die sich vom Nacken bis in den Kopf erstrecken, Schlafstörungen und eine Depressivität, arbeitsunfähig. Dies alles führt sie auf den Spritzenabszess zurück.

Der Abszess beruhte auf einer Staphylokokken-Infektion, die sich die Klägerin über die Injektionen in der Praxis der Beklagten zu 3) und zu 4) zugezogen hatte. Gleichartige Infektionen traten zeitnah bei zahlreichen anderen Patienten der Praxis auf, davon die ersten Fälle am 2., 8. und 10.6.1999. Ausgangsträger der maßgeblichen Keime war nach dem übereinstimmenden Vortrag die angestellte Arzthelferin Silvia H., die bei der Verabreichung der Spritzen durchweg assistierte. Das ist auch die Erkenntnis eines Untersuchungsberichts des Gesundheitsamts, das die Beklagten zu 3) und zu 4) Mitte Juni 1999 informierten. Der Bericht rügt verschiedene Hygienemängel in der Praxis.

Im vorliegenden Rechtsstreit hat die Klägerin die Beklagten jeweils nebst Zinsen auf die Zahlung einer materiellen Schadensersatzleistung von 11.610 EUR, durch die insb. eigene Einkommenseinbußen und Aufwendungen des Ehemanns für "Betreuungsfahrten" ausgeglichen werden sollen, und eines mit 25.000 EUR bezifferten Schmerzensgelds in Anspruch genommen und außerdem die Feststellung deren weiter gehender materieller und immaterieller Haftung erstrebt. Sie hat ihnen unter Hinweis auf den Untersuchungsbericht des Gesundheitsamts Nachlässigkeiten in der Praxishygiene vorgeworfen und angelastet, zu spät auf die bei anderen Patienten und schließlich auch bei ihr selbst aufgetretenen Infektionssymptome reagiert zu haben.

Das LG hat im Hinblick auf die zwischen den Parteien streitige Kausalität des Spritzenabszesses für die von der Klägerin geltend gemachten Dauerschäden ein orthopädisches und ein psychiatrisch-neurologisches Sachverständigengutachten eingeholt. Nach deren Ergebnis gibt es für die vorgetragenen Beschwerden im Nacken- und Kopfbereich keine somatische Erklärung. Der psychiatrisch-neurologische Sachverständige hat die Auffassung vertreten, dass die Klägerin aufgrund einer Fehlverarbeitung des Abszesses und der ihn primär effektiv begleitenden Schmerzen eine psychogene Schmerzsymptomatik und eine Depressivität entwickelt habe, die in Wechselwirkung zueinander stünden und die sozial-kommunikative Kompetenz einschränkten.

Vor diesem Hintergrund hat das LG der Klägerin in einem Teil- und Grundurteil ein Schmerzensge...

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