Leitsatz (amtlich)
1.
Die Bestellung eines Pflichtverteidigers wirkt grundsätzlich erst ab dem Zeitpunkt der Bestellung; § 97 Abs. 3 BRAGO enthält allerdings einen gebührenrechtlichen Sonderfall der rückwirkenden Bestellung.
2.
Von der gesetzlichen Regelung des § 97 Abs. 3 BRAGO kann nicht abgewichen werden; der für die Pflichtverteidigerbestellung zuständige Vorsitzende ist nicht dazu befugt, Einschränkungen gesetzlicher Ansprüche vorzunehmen.
3.
Von der gesetzlichen Regelung des § 97 Abs. 3 BRAGO kann auch dann nicht abgewichen werden, wenn die Bestellung eines zweiten Pflichtverteidigers zur Verfahrenssicherung erfolgt, da die Bestellung "extra legem" erfolgt und dies in der gerichtlichen Praxis anerkannt ist.
Tenor
Der angefochtene Beschluss und der Kostenfestsetzungsbeschluss vom 25. März 2002 werden aufgehoben. Die Pflichtverteidigergebühren des Rechtsanwalts F. werden gemäß dem Kostenfestsetzungsbeschluss vom 11. April 2001 - auf 3.622,47 EUR (in Worten: dreitausendsechshundertzweiundzwanzig 47/100 Euro) (7.084,94 DM) festgesetzt.
Die Entscheidung ergeht gebührenfrei. Kosten werden nicht erstattet.
Gründe
I.
In einem Strafverfahren der Staatsanwaltschaft Aachen ist der frühere Angeklagte durch Urteil des Landgerichts Aachen vom 8. Februar 2001 vom Vorwurf des sexuellen Missbrauchs von Kindern freigesprochen worden. Die Kosten des Verfahrens und die notwendigen Auslagen des Angeklagten sind der Staatskasse auferlegt worden.
Zu Verteidigern des damaligen Beschuldigten hatten sich - vor Anklageerhebung - mit Schriftsatz vom 29. März 2000 Rechtsanwältin M.-N. und - nach Anklageerhebung - mit Schriftsatz vom 4. Oktober 2000 Rechtsanwalt F. bestellt.
Kurz vor Beginn der Hauptverhandlung, mit Schriftsatz vom 16. November 2000 beantragte Rechtsanwalt F. seine Beiordnung als Pflichtverteidiger, was die Vorsitzende der Strafkammer unter Hinweis auf das bestehende Wahlverteidigermandat von Rechtsanwältin M.-N. ablehnte. Auf einen zu Beginn der Hauptverhandlung von Rechtsanwältin M.-N. gestellten Antrag wurde diese, nach einer Klarstellung durch die Vorsitzende, dass nur ein Pflichtverteidiger bestellt werde, und nach einem klärenden Gespräch unter Beteiligung des Angeklagten, am 20. November 2000 zur Pflichtverteidigerin bestellt. Ab dem 2. Verhandlungstag nahm Rechtsanwalt F. gleichwohl regelmäßig an der Hauptverhandlung teil.
Am 28. Dezember 2000 wiederholte Rechtsanwalt F. den Antrag auf Beiordnung als Pflichtverteidiger unter Hinweis auf eine Verhinderung von Rechtsanwältin M.-N. an einzelnen künftigen Verhandlungstagen. Mit Beschluss vom 11. Januar 2001 wurde sodann Rechtsanwalt F. "als weiterer Pflichtverteidiger zur Sicherung der Hauptverhandlung" bestellt.
Nach dem Abschluss des Verfahrens machte Rechtsanwalt F. die Pflichtverteidigergebühren gemäß § 97 BRAGO geltend. Diese setzte der Urkundsbeamte der Geschäftsstelle mit Beschluss vom 11. April 2001 die Rechtsanwalt F. zustehenden Pflichtverteidigergebühren unter Zugrundelegung der Gebühren für die Wahrnehmung der Hauptverhandlung an insgesamt 13 Hauptverhandlungstagen gemäß folgender Aufstellung auf 7.084, 94 DM fest:
Gebühren gem. §§ 83, 97 BRAGO |
5.040,- DM |
Pauschsatz |
30,- DM |
Terminsauslagen |
819,40 DM |
Kopierkosten |
218,30 DM |
Summe: |
6.107,70 DM |
zuzüglich 16 v.H. UmsSt: |
977,24 DM |
Gesamtbetrag: |
7.084,94 DM |
Auf die Erinnerung des Vertreters der Landeskasse vom 25. März 2002 - und dieser abhelfend - setzte der Rechtspfleger die Rechtsanwalt F. aus der Staatskasse zu erstattenden Pflichtverteidigergebühren neu auf 1.986,85 DM = 1.015,86 Euro fest. Dabei legte er nur noch die Gebühren für die Wahrnehmung der Hauptverhandlung an vier Hauptverhandlungstagen zugrunde, und zwar für die Termine vom 18. und 25. Januar 2001 sowie vom 1. und 8. Februar 2001. Begründet wurde dies damit, dass die Beiordnung von Rechtsanwalt F. als weiterem Pflichtverteidiger nur zur Wahrnehmung einzelner Hauptverhandlungstermine ab dem Zeitpunkt seiner Beiordnung durch den Beschluss vom 11. Januar 2001 erfolgt sei.
Die gegen diese Entscheidung gerichtete Erinnerung des Pflichtverteidigers Rechtsanwalt F. vom 29. Oktober 2002 hat die Vorsitzende der Strafkammer mit dem angefochtenen Beschluss vom 22. November 2002 zurückgewiesen.
Hiergegen richtet sich das von Rechtsanwalt F. mit Schreiben vom 29. November 2002 eingelegte und am 2. Dezember 2002 bei Gericht eingegangene "Rechtsmittel".
II.
Das eingelegte "Rechtsmittel" ist als Beschwerde gemäß § 98 Abs.3 BRAGO in Verbindung mit §§ 304 - 310, 311 a StPO zulässig und in der Sache begründet.
Rechtsanwalt F. hat gemäß §§ 83, 97 BRAGO Anspruch auf Pflichtverteidigergebühren auch für die Wahrnehmung der vor seiner Bestellung liegenden Hauptverhandlungstage, an denen er teilgenommen hat. Dies folgt aus § 97 Abs.3 BRAGO. Der Umstand, dass Rechtsanwalt F. erst am 11. Januar 2001 zum Pflichtverteidiger bestellt worden ist, führt nicht zu einer Beschränkung seiner Pflichtverteidigergebühren.
1.
Zwar wirkt die Bestellung eines Pflichtverteidigers grundsätzlich er...