Leitsatz (amtlich)
1. Die Frage, wann einem Berufshaftpflichtversicherer die Berufung auf den Einwand der Erschöpfung der Deckungssumme gemäß § 156 III VVG a.F. wegen des vorliegenden Befriedigungsvorrechts der Geschädigten nach § 116 IV SGB X gegenüber einem Anspruch eines Sozialversicherungsträgers aus übergegangenem Recht des Geschädigten nach erbrachten Leistungen gemäß § 242 BGB verwehrt ist, lässt sich nur unter Berücksichtigung der Umstände des Einzelfalles entscheiden.
2. Ein treuwidriges Verhalten des Versicherers ist auch bei unterlassener Durchführung des Verteilungsverfahrens und unterbliebener Befriedigung der Geschädigten über einen sehr langen Zeitraum jedenfalls dann nicht anzunehmen, wenn dies darauf beruht, dass weitere Entschädigungsansprüche der Geschädigten von deren Bevollmächtigten weder konkret beziffert noch eingefordert worden sind und die über mehrere Jahre zwischen ihr und der beklagten Versicherung berechtigter Weise geführten Vergleichsverhandlungen über eine Abfindungssumme aufgrund von Umständen, die nicht im Verantwortungsbereich des beklagten Versicherers liegen, bisher nicht abgeschlossen werden konnten.
Verfahrensgang
LG Köln (Urteil vom 10.03.2016; Aktenzeichen 24 O 66/13) |
Tenor
Auf die Berufung der Beklagten wird das am 10.03.2016 verkündete Urteil des LG Köln - 24 O 66/13 - abgeändert und wie folgt neu gefasst:
Die Klage wird abgewiesen.
Die Kosten des Rechtsstreits erster und zweiter Instanz werden dem Kläger auferlegt.
Dieses Urteil ist vorläufig vollstreckbar.
Der Kläger darf die Vollstreckung durch die Beklagte durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des aufgrund des Urteils vollstreckbaren Betrages abwenden, wenn nicht die Beklagte vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 110 % des jeweils zu vollstreckenden Betrages leistet.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Gründe
I. Der Kläger als überörtlicher Träger der Sozialhilfe macht im Wege der Einziehungsklage den von ihm gepfändeten Freistellungsanspruch des Gynäkologen Dr. T wegen eines Behandlungsfehlers vom 28.08.2002 gegenüber der Beklagten als dessen Haftpflichtversicherer geltend.
Dr. T unterhielt bei der Beklagten seit dem 14.03.1997 eine Berufshaftpflichtversicherung für Ärzte mit einer Deckungssumme für Personenschäden in Höhe von 2.000.000,- DM (= 1.022.583,76 EUR) (BLD 4, Bl. 92 f. d.A.). Dem Versicherungsvertrag lagen u.a. die "Allgemeinen Versicherungsbedingungen für die Haftpflichtversicherung (AHB)" zugrunde (BLD 8, Bl. 139 ff. d.A.).
Aufgrund eines Geburtshilfefehlers von Dr. T ist die am 28.08.2002 geborene Geschädigte B. schwerstbehindert. Sie leidet, wie sich aus den in erster Instanz vorgelegten und im angefochtenen Urteil aufgeführten Entwicklungs-, Arzt- und Befundberichten verschiedener Ärzte und Einrichtungen aus den Jahren 2002 - 2011 ergibt (K 11 Bl. 37 ff. d.A., BLD 6 Bl. 98 ff. d.A.), an einer schweren cerebralen Residualschädigung nach perinataler Asphyxie, spastischer Tetraparese, schwerer mentaler Retadierung sowie zerebraler Sehstörung und wird zeitlebens auf Pflege angewiesen sein. Sie zu 50 % schwerbehindert (BLD 5, Bl. 94 ff. d.A.) und wird eine eigenständige Erwerbstätigkeit voraussichtlich niemals aufnehmen können. Aufgrund ihrer fortbestehenden Behinderung ist die Geschädigte teilstationär in der Heilpädagogischen Tagesstätte Fritz-Felsensein-Haus untergebracht, wo sie eine behindertengerechte Schule besucht.
Nachdem zunächst die anwaltlich vertretenen Eltern der Geschädigten im Jahr 2003 erfolglos Ansprüche gegenüber der Beklagten geltend gemacht hatten, forderte die Geschädigte die Beklagte mit Schreiben ihres Bevollmächtigten, Rechtsanwalt K., unter Vorlage eines gegen Dr. T. strafrechtlichen Ermittlungsverfahren eingeholten Sachverständigengutachtens vom 25.08.2003 zur Zahlung eines Vorschusses auf ihre Schadensersatzansprüche in Höhe von 20.000,- EUR auf.
Da hierauf trotz weiterer anwaltlicher Zahlungsaufforderungen vom 22.02.2005 und vom 16.03.2005 keine Zahlungen der Beklagten erfolgten, erhob die Geschädigte unter dem 11.07.2005 gegen Dr. T. dem LG Augsburg zum Az. 4 O 3597/05, Klage auf Schadensersatz in Höhe von 7.015,82 EUR, Schmerzensgeld und Feststellung der Verpflichtung von Dr. Tum Ersatz aller ihr im Übrigen aufgrund des Geburtshilfefehlers vom 28.08.2002 entstandenen und noch entstehenden materiellen und immateriellen Schäden. In dem am 26.02.2008 zunächst ergangenen Teil- und Grundurteil wurde der Klage dem Grunde nach vollumfänglich stattgegeben (K 1, Bl. 11 ff. d.A.). In dem nachfolgenden End- und Kostenschlussurteil des LG Augsburg vom 03.03.2009, Az 4 O 3597/05, wurde Dr. Tber die bereits zugesprochene Feststellung hinaus antragsgemäß zur Zahlung des bezifferten Schadensersatzes sowie eines Schmerzensgeldes in Höhe von 80.000,- EUR jeweils nebst Zinsen seit 2005 verurteilt. Nachdem Berufungen gegen diese Urteile nicht eingelegt worden waren, zahlte die Beklagte Ende April 2009 an die Geschädigte die titulierten Beträge in Höhe von 87.015,82 EUR zzgl. Zinsen, in...