Entscheidungsstichwort (Thema)
Kein grober Behandlungsfehler trotz Verstoß gegen Leitlinien
Leitsatz (amtlich)
Wird die gebotene Indikationsstellung für eine Notsectio um zwei Minuten verzögert, weil der Geburtshelfer sich entschließt, zuvor einen vaginal-operativen Entbindungsversuch zu unternehmen, der nach den Leitlinien der Deutschen Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe wegen schwierig einzuschätzender Situation unterbleiben sollte, liegt jedenfalls kein grober Behandlungsfehler vor.
Normenkette
BGB §§ 249, 280, 611, 823
Verfahrensgang
LG Aachen (Urteil vom 29.08.2012; Aktenzeichen 11 O 550/09) |
Tenor
Die Berufung der Kläger gegen das am 29.8.2012 verkündete Urteil der 11. Zivilkammer des LG Aachen - 11 O 550/09 - wird zurückgewiesen.
Die Kosten des Berufungsverfahrens werden zu 42 % dem Kläger zu 1) und zu 58 % der Klägerin zu 2) auferlegt.
Das vorliegende Urteil und die angefochtene Entscheidung sind vorläufig vollstreckbar. Den Kläger wird nachgelassen, die Zwangsvollstreckung durch Sicherheitsleistung i.H.v. 110 % des vollstreckbaren Betrags abzuwenden, wenn nicht die Beklagten vor der Vollstreckung Sicherheit i.H.v. 110 % des zu vollstreckenden Betrags leisten.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Gründe
I. Die Kläger nehmen die Beklagten wegen behaupteter Behandlungsfehler bei der Geburt ihrer Tochter H auf Ersatz von Beerdigungskosten, ererbtes Schmerzensgeld in einer als angemessen angesehenen Höhe von 20.000 EUR und die Feststellung der Verpflichtung zum Ersatz bestimmter weiterer Schäden in Anspruch. Die Klägerin zu 2) begehrt ferner Schmerzensgeld in einer Größenordnung von 5.000 EUR aus eigenem Recht.
Die am 7.4.1971 geborene Klägerin zu 2) stellte sich nach unauffälligem Schwangerschaftsverlauf am 17.2.2006 um 10.30 Uhr in der 38 + 2. Schwangerschaftswoche zu einer Routineuntersuchung bei ihrer Frauenärztin vor, die Anzeichen einer vorzeitigen Geburt feststellte. Sie wies die Klägerin zu 2) sofort in das C Krankenhaus T ein, dessen Trägerin die Beklagte zu 1) ist. Die Klägerin zu 2) traf gegen 11.00 Uhr im Kreißsaal ein. Um 11.04 Uhr begann die Aufzeichnung des CTG. Um 11.10 Uhr stellte die Hebamme eine Baseline von 100 Schlägen pro Minute und eine silente Oszillation fest und verständigte die zuständige Kreißsaalärztin Dr. T2. Um 11.14 Uhr kam es zu Dezelarationen bis 80 Schläge pro Minute. Die um 11.15 Uhr erneut informierte Ärztin Dr. T2 kam um 11.16 Uhr in den Kreissaal. Sie führte eine Notfalltokolyse durch und verständigte um 11.18 Uhr den Beklagten zu 2) als den zuständigen Oberarzt, der um 11.20 Uhr im Kreissaal eintraf. Er nahm erneut eine Notfalltokolyse vor und führte eine vaginale Untersuchung durch. Bei der Untersuchung kam es zu einem Blasensprung. Es entleerte sich dick-grünes, übelriechendes Fruchtwasser. Ab 11.22 Uhr lag die Herzfrequenz bei 75 Schlägen pro Minute. Um 11.24 Uhr war der Muttermund bis auf einen wegschiebbaren Saum vollständig eröffnet. Der Beklagte zu 2) traf zu diesem Zeitpunkt den Entschluss zur Vorbereitung einer Notsectio mit vorausgehendem Versuch einer Vakuumextraktion. Den Versuch brach er um 11.35 Uhr nach zwei Zügen am kindlichen Kopf ab. Gemessen an der CTG-Registrierung wurde die Klägerin zu 2) um 11.38 Uhr in den Operationssaal eingeschleust. Die im Operationssaal befindliche Uhr zeigte zu diesem Zeitpunkt 11.42 Uhr an.
Um 11.42 Uhr (CTG) bzw. 11.46 (OP-Uhr) wurde die Tochter H der Kläger geboren. Die Apgar-Werte betrugen 0, 2 und 5. Der arterielle pH-Wert der Nabelschnur belief sich auf 6,76 bei einem Base-Excess von -24 mmol/l. Das Kind wurde zunächst auf die Kinderintensivstation verlegt. Die histologische Untersuchung der Plazenta ergab den Befund einer Chorioamnionitis. Die Tochter der Kläger, bei der eine schwere Hirnschädigung bestand, verstarb am 24.5.2006 im Krankenhaus der Beklagten, nachdem zuvor Atemnot mit Schnappatmung aufgetreten war und die Ärzte Morphium verabreicht hatten.
Die Kläger haben den Beklagten gestützt auf ein Gutachten von Prof. Dr. L (Bl. 55 ff. d.A.) vor allem eine verspätete Entscheidung zur Sectio, die vorherige Vornahme einer nicht indizierten Vakuumextraktion und eine fehlerhafte kinderärztliche Versorgung, insbesondere unmittelbar vor dem Tod ihres Kindes, vorgeworfen.
Sie haben beantragt,
1. die Beklagten als Gesamtschuldner zu verurteilen an sie als Gläubiger zur gesamten Hand Schadensersatz i.H.v. 4.352,17 EUR nebst Zinsen i.H.v. fünf Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 1.6.2006 sowie ein in das Ermessen des Gerichts gestelltes Schmerzensgeld zu zahlen,
2. die Beklagten als Gesamtschuldner zu verurteilen, der Klägerin zu 2) ein in das Ermessen des Gerichts gestelltes Schmerzensgeld zu zahlen,
3. festzustellen, dass die Beklagten als Gesamtschuldner verpflichtet sind, den Klägern als Gesamtgläubigern die Kosten für die Errichtung eines angemessenen Grabsteins für die verstorbene Tochter H und die Kosten für die Erstellung eines privatärztlichen Gutachtens durch Prof. Dr. L zu zahlen.
Die Beklagten haben b...