Entscheidungsstichwort (Thema)
Kieferorthopädische Behandlungskosten als Sonderbedarf trotz Nichtübernahme der Kosten durch die gesetzliche Krankenkasse
Leitsatz (amtlich)
Kieferorthopädischen Behandlungskosten stellen regelmäßig Sonderbedarf i.S.v. § 1613 Abs. 2 Nr. 1 BGB dar (vgl. OLG Celle FamRZ 2008, 1884, 1885 mit zahlreichen weiteren Rechtsprechungshinweisen), soweit es sich bei der geplanten Therapie um eine sinnvolle Maßnahme handelt, die also medizinisch indiziert ist und zur Vermeidung späterer gesundheitlicher Schäden für den Patienten unbedingt durchgeführt werden sollte.
Aus unterhaltsrechtlicher Sicht erscheint es für die Erforderlichkeit der anfallenden Behandlungskosten nicht geboten, dass die Behandlung einen bereits vorhandenen krankhaften Zustand repariert. Auch die vorsorgliche Prophylaxe zur Vermeidung zukünftiger Schäden reicht danach zur Behandlungsbedürftigkeit aus.
Nur bloße Schönheitsreparaturen am Gebiss können demnach gegen den Unterhaltsschuldner nicht als notwendiger Sonderbedarf geltend gemacht werden. Dagegen ist die Erstattungsfähigkeit der Behandlungskosten durch die gesetzliche Krankenkasse keine zwingende Voraussetzung für einen Unterhaltsanspruch gegen den Unterhaltsschuldner.
Leitsatz (redaktionell)
1. Kieferorthopädische Behandlungskosten stellen regelmäßig Sonderbedarf i.S.d. § 1613 Abs. 2 Nr. 1 BGB dar, für den beide Eltern bei Leistungsfähigkeit quotenmäßig aufzukommen haben.
2. Ist die kieferorthopädische Behandlung keine reine Schönheitsbehandlung, sondern hat der vom Familiengericht beauftragte Sachverständige festgestellt, dass sie als medizinisch sinnvoll einzustufen bzw. medizinisch indiziert ist, kann der Verpflichtete nicht entgegenhalten, die angefallenen und noch anfallenden Behandlungskosten seien nicht erforderlich.
Normenkette
BGB § 1613 Abs. 2 Nr. 1
Verfahrensgang
AG Bonn (Urteil vom 12.01.2010; Aktenzeichen 47 F 197/07) |
Tenor
Auf die Berufung des Beklagten wird das am 12.1.2010 verkündete Urteil des AG - Familiengericht - Bonn 47 F 197/07 - unter Zurückweisung des Rechtsmittels und Klageabweisung im Übrigen teilweise abgeändert und wie folgt neu gefasst:
Der Beklagte wird verurteilt an den Kläger 2.409,73 EUR nebst Zinsen i.H.v. 5 Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz aus einem Betrag von 605,41 EUR seit dem 19.7.2007, aus 434,76 EUR seit dem 7.11.2007, aus 92,64 EUR seit dem 22.2.2008, aus 138,76 EUR seit dem 15.4.2008, aus 239,34 EUR seit dem 4.9.2008, aus 54,82 EUR seit dem 10.12.2008, aus 75,75 EUR seit dem 8.3.2009, aus 93,03 EUR seit dem 4.12.2009 sowie aus 675,09 EUR seit dem 4.5.2010 zu zahlen.
Es wird festgestellt, dass der Beklagte verpflichtet ist, auch die weiteren Kosten aus der kieferorthopädischen Behandlung des Klägers gemäß dem kieferorthopädischen Heil- und Kostenplan der Kieferorthopäden Dr. D. L.-T. und Dr. E. L. vom 23.11.2006 (Blatt 7 GA) bis zum Abschluss der Behandlung zu 71,31 % zu übernehmen und den Kläger in dieser Höhe von Zahlungen freizustellen.
Die Kosten des Rechtsstreits erster und zweiter Instanz tragen der Kläger zu 3/10 und der Beklagte zu 7/10.
Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.
Gründe
Die zulässige - insbesondere frist- und formgerecht eingelegte - Berufung des Beklagten hat in der Sache nur teilweise Erfolg, nämlich soweit er sich dagegen wehrt, mit kieferorthopädischen Behandlungskosten bezüglich der gemäß kieferorthopädischem Heil- und Kostenplan vom 23.11.2006 (Blatt 7 GA) diagnostizierten Behandlungen von mehr als 71,31 % belastet zu werden.
Im Ergebnis zutreffend hat das Familiengericht dem Grunde nach die Verpflichtung des Beklagten ausgesprochen, sich an den kieferorthopädischen Behandlungskosten des Klägers zu beteiligen und feststellend auch die Erstattungspflicht zukünftiger Behandlungskosten ausgesprochen. Allerdings ergibt sich eine solche Erstattungspflicht für die Vergangenheit und Zukunft nur in Höhe eines Prozentsatzes von 71,31 %.
Die ungedeckten Behandlungskosten kann der Kläger als Sonderbedarf i.S.d. § 1613 Abs. 2 Nr. 1 BGB geltend machen. Die kieferorthopädischen Behandlungskosten stellen regelmäßig Sonderbedarf i.S.v. § 1613 Abs. 2 Nr. 1 BGB dar (vgl. OLG Celle FamRZ 2008, 1884, 1885 mit zahlreichen weiteren Rechtsprechungshinweisen). Um Sonderbedarf handelt es sich bei solchen Kosten, die überraschend und der Höhe nach nicht abschätzbar auftreten. Unregelmäßig i.S.v. § 1613 Abs. 2 Nr. 1 BGB ist demnach der Bedarf, der nicht mit Wahrscheinlichkeit vorauszusehen war und deswegen bei der Bemessung der laufenden Unterhaltsrente nicht berücksichtigt werden konnte. Wann ein in diesem Sinne unregelmäßiger Bedarf zugleich außergewöhnlich hoch ist, lässt sich hingegen nicht nach allgemeinen gültigen Maßstäben festlegen; vielmehr kommt es insoweit auf die Umstände des Einzelfalles an, insbesondere auf die Höhe der laufenden Unterhaltsrente und die sonstigen Einkünfte des Berechtigten, auf den Lebenszuschnitt der Beteiligten sowie auf den Anlass und den Umfang der besonderen Aufwendungen. Unter Berü...