Leitsatz (amtlich)
Parasuizidale Handlungen, die während einer Belastungserprobung eines in psychiatrischer Behandlung befindlichen Patienten erfolgen, können - vorbehaltlich einer anderen sachverständigen Bewertung im Einzelfall - ein Grund sein, der nach Rückkehr des Patienten in die Klinik eine ärztliche Untersuchung, insbesondere eine Einschätzung der Suizidalität erforderlich macht.
Der Dokumentation kommt nicht nur in positiver Hinsicht, sondern auch in negativer Hinsicht eine Indizwirkung dahin zu, dass nicht erwähnte dokumentationspflichtige Befunde nicht erhoben und nicht dokumentierte Behandlungsmaßnahmen nicht ergriffen wurden (hier: in der Dokumentation nicht vermerkte, streitige Mitteilung der Ehefrau über parasuizidale Handlungen des Patienten).
Verfahrensgang
LG Köln (Aktenzeichen 25 O 353/19) |
Tenor
Die Berufung des Klägers gegen das am 16.08.2023 verkündete Urteil der 25. Zivilkammer des Landgerichts Köln - Az. 25 O 353/19 - wird zurückgewiesen.
Die Kosten der Berufung trägt der Kläger.
Dieses sowie das angefochtene Urteil sind vorläufig vollstreckbar. Der Kläger kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe von 120 % des zu vollstreckenden Betrages abwenden, wenn nicht der Beklagte vor der Vollstreckung Sicherheit in gleicher Höhe leistet.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Gründe
I. Der Kläger begehrt mit dem Vorwurf von Behandlungsfehlern im Rahmen einer Behandlung seines am 00.00.2015 verstorbenen Vaters K. D. (im Folgenden: Patient) in der M.-Klinik F. aus eigenem und abgetretenem Recht seiner Mutter, der Zeugin A. D., die Feststellung der Einstandspflicht des Beklagten für materielle und immaterielle Schäden.
Am 20.06.2015 äußerte der Patient auf einer Autobahnbrücke stehend, dass er nicht mehr leben wolle. Er wurde zunächst in das L. Krankenhaus und von dort aus zuständigkeitshalber in die M.-Klinik F. gebracht, deren Träger der Beklagte ist. In der M.-Klinik F. wurde der Patient auf der suchttherapeutischen Station N02 stationär aufgenommen. Als Auslöser für die suizidale Krise gab er Konflikte am Arbeitsplatz und im privaten Umfeld sowie eine Überlastung an. Weiterhin angegeben wurde von ihm ein jahrelanger täglicher Alkoholkonsum in einem Umfang von 1,5 - 2 Litern Bier am Tag. Der Patient wurde ab dem 22.06.2015 mit dem Antidepressivum Fluoxetin, darüber hinaus bedarfsweise mit Clonazepam, Melperon bzw. Promethazin sowie als Festmedikation ASS, Simvastatin, Lasea und Metformin medikamentös behandelt und am 23.06.2015 auf die offene suchttherapeutische Station N01 verlegt.
In einem Zeitfenster von 24 Stunden nach der Aufnahme auf jeder Station wurde der Patient jeweils fachärztlich exploriert. Darüber hinaus erfolgte eine weitere fachärztliche Sichtung des Patienten vor seiner Verlegung auf die offene Station. Gegenstand sämtlicher fachärztlicher Explorationen war jeweils auch eine Einschätzung der Suizidalität des Patienten.
Am 25.06.2015 stellte der Patient ausweislich der Behandlungsunterlagen einen Antrag auf Belastungserprobung für die Zeit vom 26.06.2015 bis zum 27.06.2015. Diese Belastungserprobung fand am Wochenende des 27.06.2015 in einem zwischen den Parteien im Einzelnen streitigen zeitlichen Umfang statt. Unstreitig beinhaltete die Belastungserprobung an diesem Wochenende eine Übernachtung außerhalb der Klinik. Nach der Übernachtung kehrte der Patient in die Klinik zurück. Welche Mitteilungen den Mitarbeitern des Beklagten in diesem Zusammenhang gemacht wurden, ist zwischen den Parteien streitig. Am 30.06.2015 wurde der Patient auf eigenen Wunsch auf die Station N03 verlegt. Bei dieser handelt es sich um die Spezialstation zur Behandlung komorbid Erkrankter mit Abhängigkeitserkrankung und Depression im Haus des Beklagten. Bei der pflegerischen Übernahme des Patienten am 30.06.2015 fand ein pflegerisches Erstgespräch in einem Einzelsetting statt. Darüber hinaus erfolgten eine fachärztliche Beurteilung des Patienten sowie ein ärztliches Übernahmegespräch nach der Verlegung. Am 03.07.2015 nahm der Patient an einer 50-minütigen Gruppentherapie und an einer Gruppenvisite teil.
Am 04.07.2015 fand von 10.00 Uhr bis 17.00 Uhr eine weitere Tages-Belastungserprobung statt, von der sich der Patient um 17.20 Uhr in Begleitung der Zeugin D. zurückmeldete. Am 05.07.2015 fand eine weitere Tages-Belastungserprobung statt, in deren Verlauf sich der Patient vor eine Straßenbahn stürzte und verstarb.
Der Kläger hat Klage erhoben mit dem Behandlungsfehlervorwurf. Er hat behauptet, die Behandlung seines Vaters durch die Mitarbeiter des Beklagten sei nicht lege artis erfolgt. Die Suizidgefahr sei im Haus des Beklagten fehlerhaft eingeschätzt und nicht fachgerecht abgeklärt worden, die gebotene Verlegung des Patienten auf die geschlossene Station oder zumindest seine fachärztliche Exploration seien pflichtwidrig unterblieben. Dies stelle einen groben Fehler dar. Für weitergehende Maßnahmen habe spätestens Veranlassung bestanden, nachdem der Patient am Wochenende des 27.06.2015 während der Be...