Entscheidungsstichwort (Thema)

Einzelrichter, Verkündungsprotokoll, Dienstliche Erklärung, Freie Beweiswürdigung, Verkündungstermin, Beweiskraft des Protokolls, Angefochtenes Urteil, Anhörung der Beteiligten, Qualifizierte elektronische Signatur, Öffentliche Verhandlung, Verkündung einer Entscheidung, Verkündungsvermerk, Erkenntnisquellen, Elektronisches Dokument, Hinweisbeschluss, Landgerichtsurteil, Landgerichte, BGH-Beschluss, Gleichstellung, Beurkundungsvorgang

 

Nachgehend

OLG München (Beschluss vom 13.12.2023; Aktenzeichen 25 U 2494/22)

 

Tenor

Das Berufungsgericht weist auf seine Absicht hin, aufgrund der - mit Beschluss vom 4. September 2023 (Bd. II Bl. 23/24 d. A.) erbetenen - dienstlichen Erklärung der Einzelrichterin des Landgerichts vom 14. September 2023 (Bd. II Bl. 30 d. A.) für bewiesen zu erachten, dass das angefochtene Urteil (Bd. I Bl. 335/343 d. A.) am 14. April 2022 so verkündet wurde, wie es dem Inhalt des verfrüht signierten Protokolls (Bd. I Bl. 334 d. A.) entspricht.

 

Tatbestand

1. Gemäß § 165 Satz 1 ZPO kann die Beachtung der für die Verhandlung vorgeschriebenen Förmlichkeiten, zu denen nach § 160 Abs. 3 Nr. 7 ZPO die Verkündung der Entscheidungen gehört, nur durch das Protokoll bewiesen werden. Nicht ausreichend ist der Verkündungsvermerk des Urkundsbeamten der Geschäftsstelle (vgl. BGH, Beschluss vom 16. Februar 1989 - III ZB 38/88, juris Rn. 5; vom 7. Februar 1990 - XII ZB 6/90, FamRZ 1990, 507; vom 13. Juni 2012 - XII ZB 592/11, FamRZ 2012, 1287 Rn. 16). Dem Protokoll fehlt die formelle Beweiskraft des § 165 ZPO, wenn es nicht gemäß § 163 ZPO unterschrieben oder nach § 130b ZPO signiert ist (MünchKomm-ZPO/Fritsche, 6. Aufl., § 165 Rn. 9; vgl. BGH, Beschluss vom 16. Februar 1989, aaO Rn. 6; BeckOK-ZPO/Wendtland, 2023, § 165 Rn. 10; Musielak/Voit/Stadler, ZPO, 20. Aufl., § 165 Rn. 4; Zöller/Schultzky, ZPO, 34. Aufl., § 165 Rn. 6). Es fehlt am Nachweis einer Verkündung gemäß § 310 ZPO, wenn kein ordnungsgemäß unterschriebenes Protokoll besteht (vgl. BGH, Beschluss vom 25. Januar 2017 - XII ZB 504/15, Rn. 11 mwN).

Soweit das Protokoll offensichtliche Lücken aufweist, fehlt ihm ebenfalls die Beweiskraft des § 165 ZPO; in diesem Fall ist der fragliche Vorgang unter Heranziehung aller verfügbaren Erkenntnisquellen im Wege der freien Beweiswürdigung zu ermitteln (vgl. BGH, Urteil vom 12. Februar 1958 - V ZR 12/57, BGHZ 26, 340 = NJW 1958, 711, 712; vom 19. Dezember 1985 - X ZB 5/85, VersR 1986, 487 unter 2.c; vom 26. April 1989 - I ZR 220/87, NJW 1990, 121, 122; OLG Frankfurt, FamRZ 1982, 809 = BeckRS 2010, 14304). Entsprechendes gilt für sonstige inhaltliche Unstimmigkeiten und Widersprüche (BeckOK-ZPO/Wendtland, aaO; MünchKomm-ZPO/Fritsche, aaO; Musielak/Voit/Stadler, aaO Rn. 5).

2. Hier liegt ein Protokoll über die Verkündung des landgerichtlichen Urteils am 14. April 2022 als elektronisches Dokument vor (Bd. I Bl. 334 d. A.), welches - wie in § 130b Satz 1 ZPO vorgesehen - am Ende des Dokuments den Namen der verantwortenden Einzelrichterin enthält und mit einer technisch gültigen qualifizierten elektronischen Signatur der Richterin versehen ist. Die Besonderheit des Streitfalls liegt darin, dass ausweislich des Signaturprüfprotokolls das Protokoll schon am 13. April 2022 signiert worden ist, also am Tag vor der darin zu beurkundenden Urteilsverkündung. Nach Auffassung des Senats ist dies nicht dem Fall einer gänzlich fehlenden oder (technisch) ungültigen Signatur des Protokollverantwortlichen gleichzustellen, sondern wie eine offensichtliche Lücke oder Widersprüchlichkeit des Protokolls zu behandeln. Die hiernach vorzunehmende freie Beweiswürdigung dürfte zum Nachweis der Verkündung führen.

a) Die verfrühte Signatur des Protokolls ist hier keiner fehlenden Signatur gleichzustellen, sondern einer inhaltlichen Unstimmigkeit des Protokolls.

Nach §§ 130b, 163 ZPO war das Protokoll von der Einzelrichterin (vgl. § 159 Abs. 1 ZPO) zu signieren. Diese Signatur ist vorhanden. Die mangelnde Beweiskraft des Protokolls ergibt sich nicht aus dem Fehlen oder der (technischen) Ungültigkeit der Signatur, sondern aus einem Widerspruch, der mit dem beurkundeten Inhalt in Zusammenhang steht.

Die qualifizierte elektronische Signatur tritt gemäß § 130b ZPO zusammen mit der Namensangabe an die Stelle der in § 163 ZPO vorgeschriebenen Unterschrift. Unterschreiben heißt, die Verantwortung für die Richtigkeit und Vollständigkeit des Protokolls zu übernehmen (MünchKomm-ZPO/Fritsche, 6. Aufl., § 163 Rn. 2; vgl. Anders/Gehle/Bünnigmann, ZPO, 81. Aufl., § 163 Rn. 1; BeckOK-ZPO/Wendtland, 2023, § 163 Rn. 1; Kern/Diehm/Müller-Teckhof, ZPO, 2. Aufl., § 163 Rn. 2; Zöller/Schultzky, ZPO, 34. Aufl., § 163 Rn. 2; vgl. auch BVerwG, NJW 1977, 264). Dies ist nicht möglich, wenn ein Dokument unterschrieben oder signiert wird, bevor der darin beurkundete Vorgang überhaupt stattgefunden hat. Vielmehr ist das Protokoll in der Sitzung oder bald danach zu unterschreiben (vgl. BGH, Urteil vom 15. April 1958 - VIII ZR 72/57, NJW 1958, 1237) ...

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