Leitsatz (amtlich)

  • 1.

    Die Bestellung eines Pflichtverteidigers ist dann geboten, wenn zu einer Straferwartung von etwa einem Jahr Freiheitsstrafe der Umstand hinzu tritt, dass Nebenklage erhoben wurde und der Nebenkläger anwaltlich vertreten ist.

  • 2.

    Ein unmittelbar nach Urteilsverkündung erklärter Rechtsmittelverzicht des unverteidigten Angeklagten ist im Fall notwendiger Verteidigung in Zusammenschau damit jedenfalls dann unwirksam, wenn über eine beantragte Pflichtverteidigerbestellung nicht entschieden wurde.

 

Tatbestand

Das Amtsgericht verurteilte den Angeklagten wegen gefährlicher Körperverletzung am zu einer Freiheitsstrafe von einem Jahr, deren Vollstreckung es zur Bewährung aussetzte.

Mit der - nach zunächst erklärtem Rechtsmittelverzicht - eingelegten Revision rügte der Angeklagte die Verletzung formellen und materiellen Rechts. Er trug insbesondere vor, der erklärte Rechtsmittelverzicht sei unwirksam, es habe an der notwendigen Anwesenheit eines Verteidigers in der Hauptverhandlung gefehlt. Die Revision erwies sich als zulässig und auch begründet. Sie führte zur Urteilsaufhebung und Zurückverweisung (§§ 337, 338 Nr. 5, 353, 354 Abs. 2 StPO).

 

Entscheidungsgründe

1.

Die eingelegte Revision erweist sich nicht wegen eines Verfahrenshindernisses als unzulässig, denn der erklärte Rechtsmittelverzicht ist unwirksam.

a)

Ein erklärter Rechtsmittelverzicht eines verhandlungsfähigen Angeklagten ist zwar aus Gründen der Rechtssicherheit und -klarheit grundsätzlich als wirksam anzusehen (gefestigte Rechtsprechung, u.a. BGH GA 1969, 28; NStZ-RR 1997, 305; OLG Köln VRS 48, 213; OLG Hamm NJW 1973, 1850; OLG Oldenburg NStZ 1982, 520; Peglau NStZ 2002, 464; Meyer-Goßner StPO 48. Aufl. § 302 Rn. 21, 9 m.w.N.).

b)

Nur ausnahmsweise hat die Rechtsprechung in besonders gelagerten Einzelfällen, vornehmlich aus Gerechtigkeitsüberlegungen heraus, die Rechtswirksamkeit eines Rechtsmittelverzichts verneint (vgl. BGHSt 18, 257/260; 19, 101/104; OLG Hamm NJW 1976, 1952; OLG Hamburg NJW 1964, 1039; OLG Frankfurt NJW 1966, 1376).

Wurde dem Angeklagten nicht die Möglichkeit gegeben, sich vor Abgabe einer Rechtsmittelverzichtserklärung mit seinem Verteidiger zu besprechen, wird der Rechtsmittelverzicht als unwirksam angesehen. Dies auch dann, wenn im Fall der notwendigen Verteidigung dem Angeklagten kein Verteidiger beistand (BayObLG, Beschluss vom 23.6.1998, NStE Nr. 20 zu § 302 StPO). Im Fall einer notwendigen Verteidigung nach § 140 Abs. 2 StPO ist dies die überwiegende obergerichtliche Rechtsprechung (vgl. Meyer-Goßner § 302 Rn. 25 a m.w.N.). Eine neuere Rechtsprechung (u.a. OLG Naumburg NJW 2001, 2190) verlangt über eine fehlende Pflichtverteidigerbestellung hinausgehende Umstände (kein ausreichendes Erkennen der Bedeutung und Tragweite der Erklärung), um zur Unwirksamkeit eines erklärten Rechtsmittelverzichts zu kommen.

Im konkreten Fall bedarf es keiner vertieften Auseinandersetzung mit dieser neueren Rechtsprechung, da eine Fallgestaltung notwendiger Verteidigung nach § 140 Abs. 2 StPO vorliegt und ein Mangel in der Prozessführung hinzukommt.

2.

Es liegt ein Fall notwendiger Verteidigung gemäß § 140 Abs. 2 StPO vor.

Allein von der Schwere der Tat her wäre eine Pflichtverteidigerbestellung nicht erforderlich gewesen. Die Schwere der Tat beurteilt sich in erster Linie nach den zu erwartenden Rechtsfolgen (BGHSt 6, 199; Meyer-Goßner § 140 Rn. 23 m.w.N. zur umfänglichen Rechtsprechung). Es gibt keine starre Regelung, ab welcher Straferwartung ein Verteidiger beizuordnen ist (vgl. u.a. OLG Zweibrücken NStZ 1986, 135). Es sind hierbei auch die weiteren Umstände des konkreten Falls heranzuziehen. So wird teilweise schon bei einer Straferwartung ab einem Jahr Freiheitsstrafe ein Anlass zur Beiordnung eines Strafverteidigers gesehen, andere Entscheidungen halten dies erst bei einer weit darüber hinausgehenden Freiheitsstrafe für erforderlich (vgl. Meyer-Goßner § 140 Rn. 23 mit Rechtsprechungsnachweisen).

Der Angeklagte musste nach dem Schuldvorwurf (massives Treten mit einem schweren Turnschuh in das Gesicht eines am Boden Liegenden, der helfend und streitschlichtend eingreifen wollte, mit der Verletzungsfolge eines Kieferbruchs) allerdings mit einer erheblichen Freiheitsstrafe rechnen. Die ausgesprochene Freiheitsstrafe von einem Jahr ist nach Auffassung des Senats keinesfalls überhöht. Auch unter Berücksichtigung einer erheblichen alkoholischen Enthemmung und eines bisher straffrei geführten Lebens war ein Strafausspruch in dieser Höhe schon vor Verhandlungsbeginn abzusehen. Da keine sonstigen schweren Nachteile drohten und mit der Aussetzung der Strafe zur Bewährung zu rechnen war, gebot diese Rechtsfolgenentscheidung allein aber noch keine Mitwirkung eines Verteidigers. Der Angeklagte war auch zur Selbstverteidigung fähig. Bei ihm sind als deutschem Staatsangehörigen mit deutscher Grund- und Realschulausbildung und einem folgenden Abschluss als Bürokaufmann trotz seiner ausländischen Herkunft bei fehlerfreien Sprachkenntnissen Verständi...

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