Leitsatz (amtlich)

Ein vollziehbar ausreisepflichtiger iranischer Staatsangehöriger, der nicht freiwillig in den Iran zurückkehren will, macht sich nicht nach § 95 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG strafbar, wenn er sich bei seiner Auslandsvertretung weigert, eine Freiwilligkeitserklärung des Inhalts abzugeben, aus freien Stücken in die Islamische Republik Iran zurückkehren zu wollen, obwohl die Auslandsvertretung dies als generelle Voraussetzung der Bearbeitung seines Antrags auf Erteilung eines Reisepasses einfordert.

 

Normenkette

AufenthG § 95 Abs. 1 Nr. 1

 

Tatbestand

Der Angeklagte besitzt die iranische Staatsangehörigkeit. Er reiste im Jahr 2002 illegal ohne Reisepass in das Bundesgebiet ein. Seinen ihm ausgestellten iranischen Reisepass hatte er entweder im Iran zurückgelassen oder seinem Schleuser gegeben. Ihm lag zur Last, sich seit dem 01.09.2006 bis zum 16.01.2008 im Gebiet der Bundesrepublik Deutschland aufgehalten zu haben, ohne im Besitz eines erforderlichen gültigen Passes oder Ausweisersatzes gewesen zu sein, obwohl es ihm zumutbar gewesen wäre, sich einen Pass von der Auslandvertretung der islamischen Republik Iran zu beschaffen.

Das Amtsgericht verurteilte den Angeklagten wegen unerlaubten Aufenthalts ohne Pass zur Freiheitsstrafe von sechs Monaten, deren Vollstreckung zur Bewährung ausgesetzt wurde.

Auf die Berufung des Angeklagten hob das Landgericht das Urteil des Amtsgerichts auf und sprach den Angeklagten aus Rechtsgründen frei, weil es ihm unzumutbar gewesen sei, die zur Passerlangung unerlässliche, durch die iranische Auslandsvertretung eingeforderte, sogenannte "Freiwilligkeitserklärung" abzugeben.

Insoweit könne er aus rechtsstaatlichen Gründen nicht mit freiheitsentziehender Strafverfolgung belegt werden, wenn er sich weigere, wahrheitswidrig die Erklärung abzugeben, " freiwillig in den Iran zurückkehren zu wollen".

Mit der Revision rügte die Staatsanwaltschaft die Verletzung materiellen Rechts und machte geltend, dass das Landgericht § 95 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG nicht richtig angewandt habe. Der Angeklagte habe sich ohne Reisepass im Gebiet der Bundesrepublik Deutschland aufgehalten. Obwohl es ihm zumutbar gewesen sei, habe er sich einen neuen Reisepass nicht beschafft. Er habe sich nämlich geweigert, gegenüber der iranischen Auslandsvertretung eine so genannte "Freiwilligkeitserklärung" abzugeben, weshalb ihm ein Reisepass nicht erteilt worden sei. Damit habe er seine Mitwirkungspflicht im Sinne von § 48 AufenthG i.V.m. § 49 Abs. 2 AufenthG, an der Beschaffung von Heimreisedokumenten mitzuwirken, verletzt. Hierzu sei er aber besonders verpflichtet, denn er sei von vorneherein nicht im Besitz eines Reisepasses gewesen und habe daher das Bedürfnis für die Neuausstellung seines Passes selbst zu verantworten.

Das Rechtsmittel blieb ohne Erfolg.

 

Entscheidungsgründe

(...)

Ein strafbarer Verstoß gegen § 92 Abs. 1 Nr. 1, § 3 Abs. 1, § 48 Abs. 2 AufenthG liegt nicht vor, weil dem Angeklagten eine Passbeschaffung unzumutbar war. Dies hat das Landgericht in revisionsrechtlich nicht zu beanstandender Weise festgestellt.

Nach § 95 Abs. 1 Ziff. 1 AufenthG macht sich ein Ausländer strafbar, wenn er sich, ohne in Besitz eines gültigen Passes oder Passersatzes zu sein, im Gebiet der Bundesrepublik Deutschland aufhält (§ 3 Abs. 1 AufenthG), obwohl er einen Pass in zumutbarer Weise erlangen könnte (§ 48 Abs. 2 AufenthG).

Grundsätzlich kommt ein Ausländer seiner Verpflichtung, sich einen Reisepass zu beschaffen, nur dann nach, wenn er zumindest einen entsprechenden Antrag bei der diplomatischen Vertretung seines Heimatstaates stellt; denn im Regelfall ist es jedem Ausländer zuzumuten, bei dem Staat, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt oder in dem er vor der Einreise in das Bundesgebiet seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte, einen Pass zu beantragen, sofern er keinen Anspruch auf Erteilung eines deutschen Passersatzes hat. Dies beurteilte sich bis zum 31.12.2004 nach der Allgemeinen Verwaltungsvorschrift zum AuslG Nr. 39.02. Seit dem Inkrafttreten des AufenthG am 1.1.2005 ergeben sich die Verwaltungsvorschriften zur Zumutbarkeit aus den Vorläufigen Anwendungshinweisen (Renner Ausländerrecht 8. Aufl. § 48 AufenthG Vorläufige Anwendungshinweise Ziffer 48.2.3., die zur Zumutbarkeit auf § 55 Abs. 1 Satz 3 i.V.m § 5 Abs. 2 Nr. 1 AufenthV verweisen).

Auch die Allgemeine Verwaltungsvorschrift zum Aufenthaltsgesetz vom 26.10.2009 (gültig seit 31.10.2009) des Bundesministeriums des Innern verweist in Ziffer 48.01 neben den ausweisrechtlichen Pflichten, die in § 48 AufenthG normiert sind, auf die ausweisrechtlichen Verpflichtungen nach §§ 56 und 57 AufenthV, sowie auf die generell bestehende Passbesitzpflicht aus § 3 AufenthG. Für die Frage der Zumutbarkeit der Passbeschaffung wird dort (in Ziffer 48.2.2.1) ebenfalls auf die vorerwähnten Vorschriften der AufenthV verwiesen.

Hier hat der Angeklagte keinen Antrag auf Erteilung eines Passes gestellt, weshalb sich zwar grundsätzlich die Annahme verbietet, ein solcher sei in zumutbarer Weise...

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