Leitsatz (amtlich)
1. Es steht einer vollständigen Funktionsunfähigkeit der Beine bis unterhalb der Knie gem. § 7 Nr. 1 Abs. 2a AUB 94 nicht entgegen, dass der Kläger die Beine im Liegen noch bewegen kann.
2. Eine unvermeidbare Mitbelastung des Schienbeinkopfes beim "Gehen" auf den Knien entspricht nicht dessen funktionsgemäßer Bestimmung und hindert deshalb nicht an der Annahme des Invaliditätsgrades von 50 % wegen Funktionsunfähigkeit eines Beines bis unterhalb des Knies.
Verfahrensgang
LG München I (Urteil vom 16.04.2002; Aktenzeichen 3 O 7366/00) |
Tenor
I. Auf die Berufung des Klägers wird das Urteil des LG München I vom 16.4.2002 dahingehend abgeändert, dass die Beklagte verurteilt wird, an den Kläger weitere 125.614,18 EUR nebst 4 % Zinsen hieraus seit dem 16.6.2000 zu zahlen.
II. Die Beklagte trägt die Kosten des Rechtsstreits.
III. Die Revision wird nicht zugelassen.
IV. Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung i.H.v. 120 % des aus dem Urteil vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht der Kläger vor der Vollstreckung Sicherheit i.H.v. 120 % des jeweils zu vollstreckenden Betrags leistet.
V. Der Streitwert für das Berufungsverfahren wird auf 125.614,18 EUR festgesetzt.
Gründe
I. Der Kläger macht gegen die Beklagte Ansprüche aus einer Unfallversicherung geltend; die Parteien streiten über die Höhe des Grades der unfallbedingten Invalidität des Klägers.
Der Kläger und die Beklagte schlossen mit Beginn vom 1.2.1997 einen Vertrag über eine Unfall-Prämienrückgewähr-Versicherung mit einer Invaliditätssumme von 74.000 DM, dem die allgemeinen Unfallversicherungs-Bedingungen für Kinder und Erwachsene mit XLeistungen (X-AUB 94-UPR; im Folgenden: AUB) zugrunde liegen. Am 26.1.1998 stürzte der am XX geborene Kläger von einer Leiter ca. 4 m tief ab und erlitt dabei schwere Brüche - vor allem - beider Beine.
Die Beklagte erbrachte eine Versicherungsleistung i.H.v. 44.400 DM.
Im Übrigen wird auf die tatsächlichen Feststellungen des LG im angefochtenen Urteil Bezug genommen, § 540 Abs. 1 Nr. 1 ZPO.
Der Kläger ist der Auffassung, ihm stünden aus der Versicherung weitere 251.600 DM zu.
Das LG hat die Klage überwiegend abgewiesen. Die Beeinträchtigungen am linken Bein seien mit 5/10 nach der Gliedertaxe, die am rechten Bein mit 4/10 nach der Gliedertaxe zu bewerten. Unter Berücksichtigung einer weiteren Invalidität von 5 % wegen eines Stauchungsbruchs des 4. Lendenwirbels mit einer Höhenminderung von ¼ führe dies lediglich zu einer noch ausstehenden Forderung i.H.v. 3.026,85 EUR (5.920 DM).
Mit der Berufung verfolgt der Kläger sein ursprüngliches Begehren weiter und beantragt:
Unter Abänderung des Urteiles des LG München I vom 16.4.2002, 3 O 7366/00, wird die Beklagte verurteilt, an den Kläger weitere 125.614,18 EUR (245.680 DM) zu zahlen, nebst 4 % Zinsen hieraus seit dem 16.6.2000.
Die Beklagte beantragt, die Berufung der Klagepartei zurückzuweisen.
Der Kläger ist im Wesentlichen der Auffassung, dass bezüglich beider Beine eine Funktionsbeeinträchtigung von mindestens 5/7 vorliegen würde, was nach den vereinbarten AUB zu einer vierfachen Invaliditätsleistung führen würde.
Die Beklagte tritt dem entgegen. Das LG habe sich zu Recht auf die Ausführungen des Sachverständigen Prof. Dr. O. gestützt.
Wegen der weiteren Einzelheiten des beiderseitigen Vorbringens wird auf die gewechselten Schriftsätze verwiesen.
Der Senat hat Beweis erhoben durch die Erholung von Sachverständigengutachten von Prof. Dr. N. und dessen Anhörung. Auf die schriftlichen gutachterlichen Ausführungen vom 21.12.2004 (Bl. 172/198 d.A.), vom 16.12.2004 (Bl. 199/206 d.A.), vom 27.7.2005 (Bl. 22½23 d.A.) und vom 12.10.2005 (Bl. 235/237) wird ebenso Bezug genommen wie auf das Protokoll der öffentlichen Sitzung vom 25.4.2006 (Bl. 251/257 d.A.).
II. Die zulässige Berufung hat in vollem Umfang Erfolg.
Der geltend gemachte Anspruch ergibt sich aus § 1 Abs. 1 S. 2 VVG i.V.m. dem zwischen den Parteien geschlossenen Vertrag.
1. Auf Grund der Beweisaufnahme steht zur Überzeugung des Senats fest, dass beide Beine des Klägers bis unterhalb der Knie auf Grund des streitgegenständlichen Unfalls vollständig funktionsunfähig sind.
a) Bereits das orthopädische Sachverständigengutachten von Prof. Dr. O. hat ergeben, dass beide Beine des Klägers den Befund langjährigen Nichtgebrauchs der Füße zeigen. Es fehlen jegliche Belastungsspuren im Bereich der Fußsohle und dementsprechend findet sich auch eine Schonungsatrophie der Knochen.
b) Die neurologische Begutachtung durch den Sachverständigen Prof. Dr. N. hat zur Überzeugung des Gerichts ergeben, dass der Kläger im maßgeblichen Zeitraum auf Grund der unfallbedingten chirurgischen Rezidiveingriffe an beiden Beinen ein sog. komplexes regionales Schmerzsyndrom des Typs I - also ohne offensichtliche Läsion großer Nerven - (im Folgenden: Sudeck-Syndrom) entwickelt hat.
c) Des Weiteren haben die sachverständigen Ausführungen von Prof. Dr. N. zur Überzeugung des Senats ergeben, dass dem Kläger...