Entscheidungsstichwort (Thema)
Arzthaftung: Grober Behandlungsfehler durch die unterlassene Entfernung eines bereits diagnostizierten bösartigen Tumors bei einer Rektumresektion. Kausalzusammenhang mit den bei einer zweiten Operation eingetretenen Komplikationen. Bemessung des Schmerzensgelds
Orientierungssatz
1. Unterlässt der Arzt bei einer – ersten – Rektumresektion die Entfernung eines bereits diagnostizierten bösartigen Tumors, ist dies als grober Behandlungsfehler zu bewerten, da es schlichtweg unverständlich ist, dass sich der Operateur vor Durchführung der Operation nicht vergewissert hat, welche Darmteile zu entfernen sind. Ist zur Entfernung des Tumors eine zweite Rektumresektion erforderlich, stellt diese Operation den so genannten Primärschaden dar. Die infolge des Primärschadens aufgetretene Nahtinsuffizienz und die daraus sich ergebenden Komplikationen sind als Sekundärschäden der Operation zu bewerten.
2. Beruht die bei dem Patienten eingetretene Nahtinsuffizienz, Fistelbildung und die misslungene Stomarückverlagerung auf dem zweiten Eingriff bzw. auf den durch diesen eingetretenen Komplikationen, ist grundsätzlich ein Kausalzusammenhang zwischen der Re-Operation und den eingetretenen Komplikationen zu bejahen. Der Umstand, dass hinsichtlich der eingetretenen Komplikationen durch die erste Operation keine Risikoerhöhung für den erneuten Eingriff eingetreten ist, führt nicht zu einer Verneinung der Zurechenbarkeit der Folge der zweiten Operation zulasten des Patienten.
3. Bei der Bemessung der dem Patienten nach § 253 Abs. 2 BGB zu gewährenden billigen Entschädigung sind nicht nur die Durchführung der zweiten Operation sondern auch die durch die zweite Operation eingetreten gesundheitlichen Folgen, insbesondere die misslungene Rückverlagerung des Stomas, mit abzugelten. Muss der Patient bereits mehrere Jahre (hier: 4 Jahre) mit einem künstlichen Darmausgang leben und ist es fraglich, ob eine erneute Rückverlagerung erfolgreich durchgeführt werden kann, sind ihm auf Grund der Lage des Stomas Bücken, Drehbewegungen und aktives Arbeiten nur erschwert möglich hat sich der Heilungsverlauf durch die eingetretenen Komplikationen erheblich verzögert, waren außerdem neben der Re-Operation mindestens zwei weitere stationäre Aufenthalte erforderlich und hat sich durch die verzögerte Entfernung des bösartigen Tumors die Angst des Patienten vor einem Rezidives oder vor Metastasenbildung um circa neun Monate verlängert, ist das Schmerzensgeld auch angesichts der Tatsache, dass der Patient an einer schwer wiegenden Grunderkrankung gelitten hat und auch ein komplikationsfreier Heilungsverlauf mit Beeinträchtigungen verbunden gewesen wäre, mit 40.000 EUR zu bemessen.
Normenkette
BGB § 253 Abs. 2, § 280 Abs. 1, § 823 Abs. 1
Verfahrensgang
LG München I (Urteil vom 24.02.2010; Aktenzeichen 9 O 11012/09) |
Nachgehend
Tenor
I. Das Urteil des Landgerichts München I, Az. 9 O 11012/09 vom 24.2.2010 wird in den Ziffern I. bis III. aufgehoben und in Ziffern I. und II. wie folgt neu gefasst:
- Die Beklagten werden als Gesamtschuldner verurteilt werden, an die Klägerin ein Schmerzensgeld in Höhe von EUR 40.000,00 nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 8.8.2008 zu bezahlen.
- Die Beklagten werden als Gesamtschuldner verurteilt an die Klägerin einen Betrag in Höhe von EUR 14.369,52 EUR nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz ab dem 30.6.2009 zu bezahlen.
- Es wird festgestellt, dass die Beklagten als Gesamtschuldner verpflichtet sind, der Klägerin alle weiteren materiellen und immateriellen Schäden zu ersetzen, die ihr aus und in Zusammenhang mit ihrer Behandlung im Krankenhaus B. zwischen dem 14.01.2005 und dem 26.01.2005 noch entstehen werden, soweit die Ansprüche nicht auf Sozialversicherungsträger oder andere Dritte übergegangen sind oder übergehen werden.
- Im übrigen wird die Klage abgewiesen.
II. Im übrigen wird die Berufung der Klägerin zurückgewiesen.
III. Von den Kosten des Verfahrens beider Instanzen tragen die Klägerin 1/4 und die Beklagten 3/4.
IV. Die Revision wird zugelassen.
V. Das Urteil ist gegen Leistung einer Sicherheit in Höhe von 120% des zu vollstreckenden Betrages vorläufig vollstreckbar. Die Parteien können die Vollstreckung durch Leistung einer Sicherheit in Höhe von 120% des zu vollstreckenden Betrages abwenden, sofern nicht die vollstreckende Partei vor Vollstreckung Sicherheit in gleicher Höhe leistet.
Tatbestand
Die Klägerin macht gegen die Beklagten Ansprüche aus einer fehlerhaften medizinischen Heilbehandlung geltend.
Nachdem Ende des Jahres 2004 im Rahmen einer gynäkologischen Vorsorgeuntersuchung ein positiver Hämokulttest bei der Klägerin durchgeführt worden war, ließ sie am 15.02.2004 durch die Internisten Dres. G. und H. eine hohe Koloskopie durchführen. Diese erbrachte zum einen einen ca. 5 cm großen polypoid-exophytisch wachsenden Tumor mit einzelnen Ulzerazionen am Übergang zum Sigma sowie...