Leitsatz (amtlich)
1.
Auch wenn die Akten dem Senat nicht zur Durchführung der Haftprüfung gemäß §§ 121, 122 StPO vorgelegt worden sind, kann über die Haftfortdauer nach § 121 Abs. 1 StPO entschieden werden (Meyer-Goßner, StPO, 51. Aufl., § 122 Rdnr. 1).
2.
Der von dem Tatbegriff des § 264 StPO oder des § 53 StGB abweichende Begriff "dieselbe Tat" i. S. v. § 121 Abs 1 StPO ist nach der in Rechtsprechung und Literatur herrschenden Meinung so zu verstehen, dass ihr alle Straftaten des Beschuldigten von dem Zeitpunkt an zuzurechnen sind, in dem sie angesichts des jeweils zu bejahenden dringenden Tatverdachts gegen den Beschuldigten "bekannt" gewesen sind und daher, einen Haftgrund unterstellt, in einem Haftbefehl hätten aufgenommen werden können (vgl. Meyer-Goßner, a. a. O., § 121, Rdnr. 11f.; OLG Stuttgart, StV 2008, 85f. m. w. Nw.). Dies gilt unabhängig davon, ob die Straftaten Gegenstand desselben Verfahrens oder getrennter Verfahren sind. Dies folgt aus dem Normzweck des § 121 StPO, der sicherstellen soll, dass die Dauer der Untersuchungshaft aus verfassungsrechtlichen Gründen zeitlich begrenzt wird und die Strafverfolgungsorgane das oder die Strafverfahren beschleunigt betreiben. Dieses Ziel wird allein erreicht, wenn alle Taten, die Gegenstand eines Haftbefehls sein könnten, begrifflich unter § 121 StPO eingeordnet werden (vgl. OLG Zweibrücken, StV 1998, 556, 557). Nur so kann der Umgehung des von § 121 Abs. 1 StPO gewährten Schutzes des Beschuldigten durch die sogenannte "Reservehaltung" von Tatvorwürfen entgegen getreten werden. Der spätere Erlass eines zweiten Haftbefehls aufgrund der "in Reserve gehaltenen" Tatvorwürfe hätte zumindest eine zeitliche Verschiebung, wenn nicht gar die vollständigen Verhinderung - nämlich nach Erlass eines auf Freiheitsentziehung lautenden Urteils in dem weiteren Verfahren - der an sich veranlassten Haftprüfung durch das Oberlandesgericht zur Folge.
3.
Ob eine Tat Gegenstand eines bereits vollstreckten Haftbefehls hätte sein können, richtet sich danach, ob und wann hinsichtlich dieser Tat dringender Tatverdacht bestand, was voraussetzt, dass mit großer Wahrscheinlichkeit von der Täterschaft oder Beteiligung des Beschuldigten auszugehen ist. Dabei kommt es zur Erreichung des Normzwecks nicht darauf an, ob und wann die Staatsanwaltschaft den dringenden Tatverdacht bejaht hat. Entscheidend ist vielmehr der Zeitpunkt, an dem sie ihn hätte bejahen können (vgl. OLG Zweibrücken a. a. O.).
Verfahrensgang
LG Halle (Saale) (Entscheidung vom 16.10.2008) |
Tenor
Der Haftbefehl der 4. großen Strafkammer des Landgerichts Halle vom 16. Oktober 2008 wird aufgehoben.
Der Angeklagte ist in dieser Sache auf freien Fuß zu setzen.
Gründe
I.
Der Angeklagte befand sich zunächst aufgrund des von der Staatsanwaltschaft Halle beantragten Haftbefehls des Amtsgerichts Halle (Saale) vom 20. September 2007 (303 Ls 270 Js 27620/07), der auf den dringenden Tatverdacht des Betruges in sieben Fällen und den Haftgrund der Fluchtgefahr gestützt war, vom 08. Oktober bis 13. November 2007 in Untersuchungshaft. Zur Vollstreckung des Restes der Ersatzfreiheitsstrafe aus dem Strafbefehl des Amtsgerichts Halle-Saalkreis vom 29. August 2003 (350 Ds 601 Js 6333/03) wurde die Untersuchungshaft vom 14. November bis 18. Dezember 2007 unterbrochen. Seit dem 19. Dezember 2007 befand sich der Angeklagte mit Ausnahme des 18. April 2008, als ein Tag Erzwingungshaft vollstreckt worden ist, wiederum in jener Sache in Untersuchungshaft. Mit Urteil des Amtsgerichts Halle (Saale) vom 12. Juni 2008 wurde gegen ihn wegen Betruges in zwölf Fällen eine Gesamtfreiheitsstrafe von drei Jahren verhängt und mit Beschluss vom selben Tag der Haftbefehl vom 20. September 2007 nach Maßgabe des Urteils aufrechterhalten. Bis zum Erlass des Urteils hatte der Angeklagte beinahe sieben Monate Untersuchungshaft erlitten. Gegen das Urteil legte der Angeklagte das Rechtsmittel der Berufung ein. Mit Beschluss vom 21. Oktober 2008 hob die 9. Strafkammer - Berufungskammer - des Landgerichts Halle den Haftbefehl mit der Begründung auf, dass der Haftgrund der Fluchtgefahr in Wegfall geraten sei, da zum einen die Regelung des § 329 StPO den Fluchtanreiz mildere und zum anderen in anderer Sache gegen den Angeklagten inzwischen Haftbefehl erlassen worden sei.
Die in der vorliegenden Sache mit Datum vom 14. April 2008 erhobene Anklage der Staatsanwaltschaft Halle (Az.: 170 Js 22053/07), mit welchem dem Angeklagten zwei Vergewaltigungen (Tatzeiten: 12. Mai und 07. Juni 2007) zur Last gelegt werden, hat die 4. große Strafkammer des Landgerichts Halle nach Eingang der Akten am 26. Mai 2008 mit Beschluss vom 11. September 2008 zur Hauptverhandlung zugelassen und das Hauptverfahren eröffnet. Der Beginn der Hauptverhandlung ist auf den 16. Januar 2009 bestimmt worden.
Der Angeklagte befindet sich seit dem 22. Oktober 2008 aufgrund des von der Staatsanwaltschaft am 09. Oktober 2008 beantragten und zunächst in Überhaft notierten Haftbefehls der 4. Strafkammer des Landgeri...