Entscheidungsstichwort (Thema)
Altpapierverwertungsanlage
Leitsatz (amtlich)
1. Ein nach Aufhebung des Offenen Verfahrens durchgeführtes Verhandlungsverfahren ohne Teilnahmewettbewerb i.S.v. § 3 Abs. 4 EG VOL/A ist ein eigenständiges förmliches Vergabeverfahren; mangels Vergabebekanntmachung ist für den nach § 131 Abs. 8 GWB bzw. § 23 VgV maßgeblichen Beginn des Verfahrens auf die erste "nach außen" gerichtete Erklärung des öffentlichen Auftraggebers über die Neuausschreibung, z.B. auf die Absendung einer Einladung zur Teilnahme am Verhandlungsverfahren an private Wirtschaftsunternehmen, abzustellen.
2. Zur prozessualen Behandlung einer Anschließungserklärung der Antragsgegnerin an die sofortige Beschwerde der Beigeladenen nach Ablauf der Beschwerdefrist.
3. Die Vorschrift des § 107 Abs. 3 S. 1 Nr. 3 GWB ist auf ein Verhandlungsverfahren ohne Teilnahmewettbewerb i.S.v. § 3 Abs. 4 EG VOL/A in der Weise entsprechend anwendbar, dass an die Stelle der in der Bekanntmachung benannten Angebots- bzw. Bewerbungsfrist eine entsprechende, in den Vergabeunterlagen bekannt gemachte Ausschlussfrist für die Einreichung der (indikativen bzw. letztverbindlichen) Angebote bzw. der fehlenden Unterlagen tritt.
4. Dem Aufgreifen eines Vergabeverstoßes durch die Vergabekammer von Amts wegen steht es grundsätzlich entgegen, wenn die Antragstellerin selbst ihrer Rügeobliegenheit nicht nachgekommen und insoweit nach § 107 Abs. 3 S. 1 GWB eine Präklusion bewirkt worden ist.
5. Bei der Bestimmung des Umfangs und des Inhalts der Überprüfungs- und Kontrollpflichten des öffentlichen Auftraggebers im Rahmen der (inhaltlichen) Eignungsprüfung ist zu berücksichtigen, dass dem Auftraggeber im Vergabeverfahren nur begrenzte zeitliche und personelle Ressourcen zur Verfügung stehen und dass der Aufwand der Eignungsprüfung noch in einem angemessenen Verhältnis zur beabsichtigten Beschaffung steht.
6. Wird im Vergabeverfahren die Vorlage einer Genehmigung ohne weitere einschränkende Anmerkungen verlangt, so kann dieses Verlangen aus der Sicht eines verständigen, fachkundigen und mit den Einzelheiten der Ausschreibung vertrauten Bieters nur dahin verstanden werden, dass der vollständige Genehmigungsbescheid vorzulegen ist.
7. Hat sich der öffentliche Auftraggeber entschieden, im Verhandlungsverfahren allen Bietern die Gelegenheit zur Nachreichung sämtlicher bislang fehlender Eignungserklärungen und -nachweise einzuräumen, und hat er bei einem Bieter vergaberechtswidrig eine Bewerbungsanforderung als erfüllt angesehen und deswegen auf eine Nachforderung verzichtet, so ist er im Nachprüfungsverfahren regelmäßig zu verpflichten, dem betroffenen Bieter eine Frist zur Nachreichung dieser Unterlage zu gewähren.
Verfahrensgang
1. Vergabekammer beim Landesverwaltungsamt LSA (Beschluss vom 07.04.2011; Aktenzeichen 1 VK LSA 57/10) |
Tenor
I. Auf die sofortige Beschwerde der Beigeladenen und der Antragsgegnerin wird der Beschluss der 1. Vergabekammer beim Landesverwaltungsamt des Landes Sachsen-Anhalt vom 7.4.2011, 1 VK LSA 57/10, aufgehoben und wie folgt neu gefasst:
1. Die Antragsgegnerin wird verpflichtet, im Falle des Fortbestehens ihrer Absicht zur Auftragserteilung im laufenden Verhandlungsverfahren
a) der Beigeladenen eine angemessene Frist zur Vervollständigung ihrer Angebotsunterlagen im Hinblick auf die Vorlage der Betriebsgenehmigung(en) der von ihr bereits benannten Papierverwertungsanlage zu setzen;
b) nach Ablauf der vorgenannten Frist die Prüfung und Wertung des Angebots der Beigeladenen zu wiederholen im Hinblick auf die Vorlage der Betriebsgenehmigung(en) der Verwertungsanlage (formelle Vollständigkeit) und ggf. auf die Prognose einer ordnungsgemäßen Verwertung (inhaltlich: Leistungsfähigkeit);
c) nach Abschluss der vorgenannten Bewertung die Entscheidung über die Auswahl des zu bezuschlagenden Angebots sowie die Vorabinformation der Bieter hierüber zu wiederholen.
2. Der weiter gehende Nachprüfungsantrag der Antragstellerin wird zurückgewiesen.
II. Die weiter gehende sofortige Beschwerde der Beigeladenen und der Antragsgegnerin sowie die sofortige Beschwerde der Antragstellerin werden zurückgewiesen.
III. Kosten des Verfahrens vor der Vergabekammer
1. Die Kosten des Nachprüfungsverfahrens vor der Vergabekammer (Gebühren und Auslagen) haben die Antragstellerin und die Antragsgegnerin jeweils zur Hälfte zu tragen. Die zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung im Verfahren vor der Vergabekammer notwendigen Aufwendungen der Antragsgegnerin fallen der Antragstellerin zur Hälfte zur Last, diejenigen der Antragstellerin hat die Antragsgegnerin zur Hälfte zu tragen. Im Übrigen findet eine Kostenerstattung nicht statt.
2. Die Kosten betragen insgesamt 2.897,75 EUR.
3. Die Hinzuziehung eines Rechtsanwalts zur Vertretung im Nachprüfungsverfahren vor der Vergabekammer durch die Antragstellerin war notwendig.
IV. Kosten des Beschwerdeverfahrens
1. Die Kosten des Beschwerdeverfahrens haben die Antragstellerin zu drei Vierteln sowie die Antragsgegnerin und die Beigeladene je...