Entscheidungsstichwort (Thema)
Ab eine Strafhöhe von einem Jahr ist i.d.R. ein Fall notwendiger Verteidigung gegeben
Leitsatz (amtlich)
Der Rechtsmittelverzicht eines unverteidigten Angeklagten ist, wenn ein Fall notwendiger Verteidigung vorliegt, unwirksam.
Tenor
Auf die Beschwerde des Angeklagten wird der Beschluss des Landgerichts Magdeburg vom 1. August 2011 aufgehoben.
Die Kosten des Beschwerdeverfahrens und die notwendigen Auslagen des Angeklagten fallen der Landeskasse zur Last.
Gründe
I.
Der Angeklagte befindet sich seit dem 6. April 2011 in anderer Sache in Strafhaft.
Am 5. Mai 2011 wurde er vom Amtsgericht Magdeburg - Strafrichter - (14 Ds 394/10) wegen Erschleichens von Leistungen in zehn Fällen zur Gesamtfreiheitsstrafe von einem Jahr verurteilt. Nach Verkündung des Urteils und mündlicher Belehrung über die zulässigen Rechtsmittel erklärte der seinerzeit nicht anwaltlich vertretene Angeklagte, dass er - wie auch der Vertreter der Staatsanwaltschaft - auf Rechtsmittel verzichte; diese Erklärung wurde vorgelesen und genehmigt.
Mit Schriftsatz vom 12. Mai 2011, der am selben Tag beim Amtsgericht einging, zeigte der Verteidiger unter Vollmachtsvorlage die Vertretung des Angeklagten an und legte gegen das Urteil vom 5. Mai 2011 Rechtsmittel ein. Das schriftliche Urteil wurde dem Verteidiger am 24. Juni 2011 zugestellt.
Mit Beschluss vom 1. August 2011 hat das Landgericht Magdeburg das Rechtsmittel des Angeklagten gegen das amtsgerichtliche Urteil als unzulässig verworfen. Gegen diese dem Verteidiger am 10. August 2011 zugestellte Entscheidung wendet sich der Angeklagte mit der am 17. August 2011 bei dem Berufungsgericht eingegangenen sofortigen Beschwerde. Zu deren Begründung verweist der Verteidiger darauf, das ein Fall der notwendigen Verteidigung vorgelegen habe und der Rechtsmittelverzicht daher unwirksam sei.
II.
Die gemäß §§ 322 Abs. 2, 311 StPO zulässige sofortige Beschwerde ist begründet.
1.
Das Landgericht Magdeburg war zur Verwerfung des Rechtsmittels nicht berufen, weil die Frist zur Wahl des Rechtsmittels zum Zeitpunkt der Entscheidung noch nicht abgelaufen war.
Bringt ein Rechtsmittelführer innerhalb der Revisionsbegründungsfrist des § 345 Abs. 1 StPO keine konkretisierende Erklärung an, und bezeichnet das zunächst unbestimmt eingelegte Rechtsmittel nicht als Revision, ist dieses Rechtsmittel als Berufung zu behandeln (Meyer-Goßner, StPO, 54. Aufl., § 335 Rn. 4 m.w.N.). Ist die Berufung - z.B. wegen Rechtsmittelverzichts (§ 302 Abs. 1 S. 1StP0) - unzulässig, verwirft sie das Berufungsgericht gemäß § 322 Abs. 1 S. 1 StPO durch Beschluss. Allerdings setzt der Fristbeginn im Sinne von § 345 Abs. 1 S. 2 StPO die wirksame Zustellung des schriftlichen Urteils voraus.
Gemäß § 273 Abs. 4 StPO darf das Urteil nicht zugestellt werden, bevor das Hauptverhandlungsprotokoll fertiggestellt ist. Eine zuvor erfolgte Urteilszustellung ist unwirksam und setzt die von der Urteilszustellung abhängigen Fristen, insbesondere die Frist des § 345 Abs. 1 S. 2 StPO, nicht in Lauf (BGHSt 27, 80; Meyer-Goßner, a.a.0 , § 273 Rn. 34, § 345 Rn. 5).
Die Fertigstellung des Protokolls, welche die Unterzeichnung durch den Vorsitzenden und die Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle (§ 271 Abs. 1 S. 1 StPO) voraussetzt, ist bislang nicht erfolgt. Das Hauptverhandlungsprotokoll wurde nur von der Urkundsbeamtin unterzeichnet. Der Vorsitzende hat bislang lediglich die Anlage zum Hauptverhandlungsprotokoll - Urteilstenor und angewandte Vorschriften - mit seiner Unterschrift versehen. Die Unterzeichnung der Anlage kann indes die Unterzeichnung des Protokolls nicht ersetzten (Meyer-Goßner, a.a.O., § 271 Rn. 13 m.w.N.).
Darüber hinaus hat die Urkundsbeamtin ihrerseits die Anlage, die das Urteil dokumentieren soll, nicht abgezeichnet. Ferner wurde das Datum der Fertigstellung nicht vermerkt (§ 271 Abs. 1 S. 2 StPO).
Vom Amtsgericht ist daher zunächst das Hauptverhandlungsprotokoll fertig zu stellen und die erneute Zustellung des Urteils zu bewirken. Der Verteidiger hat sodann die Möglichkeit, innerhalb der laufenden Frist von § 345 Abs. 1 S. 2 StPO das Rechtsmittel zu konkretisieren. Erst danach kann das dann zuständige Gericht über die Zulässigkeit des Rechtsmittels befinden.
2.
Die Entscheidung über die Kosten und Auslagen beruht auf einer entsprechenden Anwendung von § 467 Abs. 1 StPO.
3.
Für das weitere Verfahren bemerkt der Senat:
Der vom Angeklagten erklärte Rechtsmittelverzicht steht nach Ansicht des Senats der Zulässigkeit des fristgerecht eingelegten Rechtsmittels nicht entgegen; er ist unwirksam.
Zwar kann ein Rechtsmittelverzicht als Prozesshandlung grundsätzlich nicht widerrufen, angefochten oder sonst zurückgenommen werden. Indes ist die Verzichtserklärung unwirksam, wenn im Falle notwendiger Verteidigung kein Verteidiger mitgewirkt hat, weil sich der Angeklagte nicht mit einem Verteidiger beraten konnte, der ihn vor übereilten Erklärungen hätte abhalten können (Meyer-Goßner, a.a.O., § 302 Rn. 25a m.w.N. zur Rspr.). Der hiervon abweichenden Ansi...