Leitsatz (amtlich)
1. Eine monochorisch-monoamniotische Zwillingsschwangerschaft (Entwicklung der Zwillinge in einer Fruchtblase) stellt eine besondere Risikoschwangerschaft dar, die besondere Anforderungen an die Begleitung der Schwangerschaft und die Planung der Geburt stellt.
2. Liegt bei einem ersten, die spätere Aufnahme in das Krankenhaus vorbereitendem Gespräch dieser Befund vor und spricht die Schwangere die Frage einer Kaiserschnittentbindung an, so stellt es einen groben Behandlungsfehler dar, wenn die das Gespräch führende Hebamme daraufhin nichts besonderes veranlasst und auch keinen Arzt hinzuzieht.
3. Kommt es später zur Geburt eines behinderten Kindes, so kehrt sich deshalb hinsichtlich der Kausalität zwischen schädigender Handlung/Unterlassung und dem eingetretenen Schaden die Beweislast um.
4. Eine andauernde Mehrfachbehinderung, die sich vor allem in einer rechtsbetonten Bewegungsstörung, sowie einer deutlichen Störung des Sprachvermögens, der intellektuellen Leistungsfähigkeit und der Wahrnehmung äußert, rechtfertigt bei einem im Entscheidungszeitpunkt elfeinhalb Jahre alten Kind ein Schmerzensgeld von 110.000 EUR.
Verfahrensgang
LG Halle (Saale) (Urteil vom 27.02.2009; Aktenzeichen 3 O 358/03) |
Tenor
Die Berufungen der Beklagten und des Streithelfers gegen das am 27.2.2009 verkündete Urteil des LG Halle (3 O 358/03) werden mit der Maßgabe zurückgewiesen, dass Ziff. 1 im Tenor des angefochtenen Urteils wie folgt neu gefasst wird:
Die Beklagte zu 1) wird verurteilt, an die Klägerin ein Schmerzensgeld i.H.v. 110.000 EUR nebst Zinsen i.H.v. 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 5.11.2003 zu zahlen.
Die Beklagte trägt die Kosten des Berufungsverfahrens; die Kosten der Streithilfe hat der Streithelfer zu tragen.
Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte kann die Vollstreckung der Klägerin gegen Sicherheitsleistung i.H.v. 140.000 EUR abwenden, wenn nicht die Klägerin vor der Vollstreckung Sicherheit in gleicher Höhe leistet.
Die Revision wird nicht zugelassen.
und beschlossen:
Der Streitwert für das Berufungsverfahren wird auf 140.000 EUR festgesetzt.
Gründe
I. Die am 8.7.1998 geborene Klägerin macht gegen die Beklagte zu 1) (i. F. Beklagte) einen Schadensersatzanspruch wegen einer vorgeburtlich oder während der Geburt entstandenen Hirnschädigung geltend. Die Klage gegen den die Geburt leitenden Beklagten zu 2), einen bei der Beklagten zu 1) angestellten Facharzt, hat das LG abgewiesen. Insoweit ist das Urteil rechtskräftig geworden. Die Parteien streiten im Berufungsverfahren im Wesentlichen darum, ob auf Seiten der Beklagten eine Pflichtverletzung durch die angestellte Hebamme H. K. vorliegt, die als grober Behandlungsfehler einzuordnen ist und ob die bei der Klägerin entstandene Hirnschädigung kausal auf eine solche Pflichtverletzung zurückzuführen ist.
Bei der Mutter der Klägerin wurde die Schwangerschaft durch den Streithelfer (einem niedergelassenen Gynäkologen) am 15.12.1997 festgestellt. Am 19.1.1998 stellte der Streithelfer eine Zwillingsschwangerschaft fest. Im Mai 1998 überwies der Streithelfer die Mutter der Klägerin an das B. Krankenhaus (u.a.) zur Erstellung einer Sonographie. Der dort behandelnde Arzt Dr. Pf. vermerkte in dem Untersuchungsbericht vom 29.5.1998 (Bl. 23 I):
Monochorisch - monoamniotisch!!!, Gemini
Am Endes Befundberichts heißt es weiter:
Diagnose
Unauffällige, zeitentsprechend entwickelte Zwillinge ohne Wachstumsdiskordanz. Dopplersonographie unauffällig.
Zwischen den Parteien ist streitig, ob Dr. Pf. den Befundbericht mit der Mutter der Klägerin besprochen hat, insbesondere, ob er ihr gegenüber die Notwendigkeit einer (frühzeitigen) "Kaiserschnittgeburt" (Sectio) erwähnt hat. Der Untersuchungsbericht wurde dem Streithelfer übermittelt, der (bzw. nach dem Inhalt der Anhörung der Kindesmutter [Bl. 107 IV], die bei ihm angestellte Hebamme Kr.) die Mutter der Klägerin über den Inhalt in Kenntnis setzte. In den Mutterpass (Bl. 24 ff. I) wurde diese Information nicht eingetragen. Der Streitverkündete (bzw. [s.o.] die Hebamme Kr.) legte den Befundbericht (lose) in den Mutterpass ein. Bei der Mutter der Klägerin wurden bis zur Geburt - unstreitig - alle üblichen Untersuchungen durchgeführt (dazu: die Eintragungen im Mutterpass). Am 10.6.1998 (= 32. Schwangerschaftswoche) stellte sich die Mutter der Klägerin in Begleitung ihrer Mutter, der Zeugin C. W., bei der Beklagten vor. Es kam zu einem Eingangsgespräch mit der diensthabenden Hebamme H. K.. Der Inhalt dieses Gesprächs ist zwischen den Parteien streitig. Die Klägerin hat dazu in der Klageschrift vorgetragen (S. 6 - Bl. 7 I):
Die Kindesmutter überreichte Frau K. den Mutterpass mit dem in der hinteren Lasche befindlichen Befundbericht von Herrn Oberarzt Dr. Pf. vom 29.5.1998. Hierbei wies die Kindesmutter die Hebamme ausdrücklich auf das von Herrn Oberarzt Dr. Pf. festgestellte und ihr gegenüber geäußerte Risiko hin, insbesondere dass die Entbindung mittels Kaiserschnitt zu erfolgen hat. Hierauf antwortete die Hebamm...