Leitsatz (amtlich)
1. Der Beweis eines Diagnosefehlers in Gestalt einer unvertretbaren Fehlinterpretation setzt eine gesicherte Rekonstruktion der Befundlage zur Zeit der Diagnosestellung durch den behandelnden Arzt voraus. Misslingt der Nachweis solcher für den Arzt erkennbarer Symptome, aus denen aus ex ante-Sicht des Arztes auf die Herausbildung eines Volldelirs und eine potentielle Eigengefährdung durch einen Sprung aus dem Fenster des Patientenzimmers geschlossen werden konnte, bleibt der Patient beweisfällig.
2. Eine Entzugssymptomatik, die sich in innerer Unruhe, Bettflüchtigkeit und Schlaflosigkeit zeigt, nicht jedoch in vegetativen Ausfällen, rechtfertigt eine - vorsorgliche - Fixierung des Patienten regelmäßig nicht.
Verfahrensgang
LG Dessau-Roßlau (Urteil vom 10.03.2009; Aktenzeichen 4 O 997/07) |
Tenor
Die Berufung des Klägers gegen das am 10.3.2009 verkündete Urteil des LG Dessau-Roßlau, 4 O 997/07, wird zurückgewiesen.
Die Kosten des Berufungsverfahrens einschließlich der außergerichtlichen Auslagen der Beklagten und ihres Streithelfers hat der Kläger zu tragen.
Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.
Der Kläger kann die Zwangsvollstreckung durch die Beklagte durch Sicherheitsleistung i.H.v. 110 % des zu vollstreckenden bzw. des tatsächlich vollstreckten Betrages abwenden, wenn nicht zuvor die Beklagte Sicherheit in gleicher Höhe geleistet hat.
Die Revision wird nicht zugelassen. Die Beschwer des Klägers übersteigt 20.000 EUR.
und beschlossen:
Der Kostenwert des Berufungsverfahrens wird auf 79.165,80 EUR festgesetzt.
Gründe
I. Der Kläger begehrt von der Beklagten als Trägerin des Städtischen Klinikums D. Schmerzensgeld, materiellen Schadenersatz und die Feststellung der Einstandspflicht für künftige Schäden im Hinblick auf seine Verletzungen bei einem Sprung aus dem Fenster seines Patientenzimmers im Krankenhaus.
Der damals 47-jährige Kläger wurde am 27.4.2002 als Notfall in die Klinik der Beklagten eingewiesen, weil ein Verdacht auf eine Blinddarmentzündung (Appendizitis) mit nekrotisierender Verlaufsform bestand. Bei der Aufnahmeuntersuchung bestätigte sich der Verdacht, zudem wurde eine Bauchfellentzündung (Peritonitis) diagnostiziert. Er wurde am 28.4.2002 laparoskopisch (d.h. mittels sog. Schlüsselloch-Chirurgie) operiert. Am 29.4.2002 wurde er von der operativen Intensivmedizinischen Station in eine offene chirurgische Station verlegt. Wegen des Auftretens von Wundinfektionen wurde am 2.5.2002 eine nochmalige Wunderöffnung erforderlich; am Folgetag hätte u.U. eine nochmalige operative Wundrevision erfolgen sollen. Die viszeralchirurgische Behandlung des Klägers ist nicht streitgegenständlich.
Die offene chirurgische Station befindet sich in einem Neubau in der 2. Etage. Der Kläger war dort in einem Zimmer mit zwei weiteren Patienten untergebracht. Das Zimmer verfügte über mehrere Fenster, die auch von den Patienten vollständig geöffnet werden konnten, d.h. die Fenster waren nicht verschließbar und ihre Öffnung war nicht auf eine Ankippbarkeit beschränkt.
Dem Personal der Beklagten war seit Beginn der stationären Aufnahme des Klägers bekannt, dass dieser seit mindestens zehn Jahren regelmäßig in erhöhtem Maße Alkohol konsumierte und eine Alkoholabhängigkeit vorlag; dies ergab sich bereits aus dem Überweisungsschein der Hausärztin des Klägers. Im postoperativen Verlauf seiner stationären Behandlung zeigte sich eine zunehmende Entzugssymptomatik, vor allem in Form wiederholender und wechselnder Unruhezustände, Bettflüchtigkeit und Schlafstörungen. Dem gegenüber sind in den Krankenunterlagen, insbesondere auch in den Pflegeberichten keine vegetativen Symptome dokumentiert, wie etwa Zittern, Schwitzen, Blutdruckerhöhungen oder verstärkte Suggestivität (d.h. eine starke psychische Beeinflussbarkeit). Am 2.5.2002 ist für 2:00 Uhr nachts niedergelegt, dass der Patient die Station zu verlassen versucht habe, und weiter:
"hört immer Stimmen und sieht Menschen, die nicht da sind".
In der Unfallnacht vom 2. zum 3.5.2002 ist für 21:00 Uhr die Anweisung dokumentiert, den Patienten gut zu beobachten; für 24:00 Uhr eine zusätzliche Medikation, weil der Patient leicht durcheinander sei. Gegen 1:00 Uhr wird notiert, dass der - auch nikotinabhängige - Patient die Station öfter durch den Notausgang zum Rauchen verlasse; gegen 2:00 Uhr, dass er viel im Flur auf und ab laufe. Schließlich wird die Krankenschwester N. Sch. gegen 3:15 Uhr durch den Mitpatienten H. durch Klingel gerufen, weil der Kläger im Zimmer am Schrank des Mitpatienten nach etwas suchte. Auf das Eingreifen der Krankenschwester und deren Beschwichtigungsversuch legte sich der Kläger in sein Bett. Die Krankenschwester informierte den Arzt vom Dienst J., der die aufmerksame Beobachtung des Patienten im stündlichen Rhythmus, wie bisher, für ausreichend erachtete. Gegen 3:35 Uhr wachte der Mitpatient H. auf, als der Kläger das Fenster neben seinem Bett öffnete und heraussprang.
Der Kläger erlitt dabei ein schweres Schädel-Hirn-Trauma mit multiplen bifrontalen Hi...