Leitsatz (amtlich)

1. Die Leitlinien der AMWF haben unbeschadet ihrer wissenschaftlichen Fundierung derzeit lediglich Informationscharakter für die Ärzte selbst. Einer weiter gehenden Bedeutung, etwa als verbindlicher Handlungsanleitung für praktizierende Ärzte, steht zumindest derzeit die anhaltende Diskussion um ihre Legitimität als auch um ihre unterschiedliche Qualität (siehe Bemühungen um ihre schrittweise Implementierung nach den Grundsätzen der evidenzbasierten Medizin) und Aktualität (angesichts des teilweise rasanten Fortschritts in der medizinischen Wissenschaft und Praxis) entgegen.

2. Forensisch betrachtet sind die Leitlinien der AMWF wegen ihres abstrakten Regelungsgehalts grundsätzlich auch nicht geeignet, ein auf den individuellen Behandlungsfall gerichtetes Sachverständigengutachten zu ersetzen (Bestätigung von OLG Naumburg, Urt. v. 19.12.2001 – 1 U 46/01).

 

Verfahrensgang

LG Magdeburg (Aktenzeichen 9 O 1074/00)

 

Tenor

Die Berufung der Klägerin gegen das am 14.8.2001 verkündete Urteil des LG Magdeburg, Az.: 9 O 1074/00, wird zurückgewiesen.

Die Kosten des Berufungsverfahrens hat die Klägerin zu tragen.

Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar. Der Klägerin wird nachgelassen, die Zwangs-vollstreckung durch die Beklagte wegen deren außergerichtlicher Auslagen durch Sicherheitsleistung i.H.v. 5.500 EUR abzuwenden, wenn nicht zuvor die Beklagte Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

Die Revision wird nicht zugelassen. Die Beschwer der Klägerin übersteigt 20.000 EUR.

 

Tatbestand

Die Klägerin begehrt von der Beklagten Schmerzensgeld i.H.v. mindestens 70.000 DM wegen fehlerhafter ärztlicher Behandlung.

Bei der Klägerin wurde am 17.5.1996 ein 2 cm breiter und 4 cm hoher Tumor im Kleinhirn-Brückenwinkel operativ entfernt. Die Operation führte – ohne ärztliches Verschulden – zu einer komplexen linksseitigen Parese (d.h. einer unvollständigen Lähmung) mit Folgeerscheinungen, die im Einzelnen zwischen den Parteien streitig sind. Die Klägerin behauptet, dass die Beklagte, eine Fachärztin für Neurologie und Psychiatrie, bei der sich die Klägerin seit November 1993 wegen linksseitiger Schmerzen im Gesicht in ambulanter Behandlung befunden hatte, diesen Tumor zu spät erkannt habe. Die Beklagte hätte bereits im Mai 1994 Veranlassung gehabt, eine Einweisung in eine stationäre Behandlung vorzunehmen bzw. zumindest eine Magnetresonanztomographie (künftig: MRT) zu veranlassen, die – was zwischen den Parteien des Rechtsstreits unstreitig ist – zu einem frühzeitigeren Entdecken des Tumors geführt hätte. Die Klägerin behauptet weiter, dass eine bereits im Mai 1994 durchzuführende Operation nicht zu den Komplikationen geführt hätte, die die Operation im Mai 1996 zur Folge hatte.

Wegen der Einzelheiten nimmt der Senat auf die tatsächlichen Feststellungen im angefochtenen Urteil Bezug, § 540 Abs. 1 Nr. 1 ZPO n.F..

Das LG hat die Klage mit seinem auf die mündliche Verhandlung vom 31.7.2001 ergangenen und am 14.8.2001 verkündeten Urteil abgewiesen. Zur Begründung hat sich das Gericht im Wesentlichen darauf gestützt, dass im Ergebnis der durchgeführten Beweisaufnahme, insbesondere durch Verwertung eines vorgerichtlichen Gutachtens im Urkundsbeweis, durch Einholung eines schriftlichen Sachverständigengutachtens sowie durch Anhörung des gerichtlichen Sachverständigen, des damaligen Chefarztes der Neurochirurgischen Klinik der Medizinischen Hochschule H. und heutigen Leiters der INI-Klinik H., Prof. Dr. med. Dr. h. c. mult. M. S., von der Klägerin nicht bewiesen worden sei, dass die Beklagte überhaupt einen Behandlungsfehler begangen habe. Vielmehr habe sie im Mai 1994 zur differentialdiagnostischen Überprüfung ihrer Diagnose „atypische Trigeminus-Neuralgie” eine Überweisung an einen Facharzt für Radiologie vorgenommen; auf dessen – im Wesentlichen befundfreie – Diagnose habe sie vertrauen dürfen.

Mit ihrer Berufung verfolgt die Klägerin ihren Klageanspruch in voller Höhe weiter. Wegen der Einzelheiten des Berufungsvorbringens wird auf den Inhalt der Schriftsätze vom 24.10.2001 und vom 19.3.2002 Bezug genommen.

 

Entscheidungsgründe

Die Berufung der Klägerin ist zulässig; insbesondere wurde sie form- und fristgemäß eingelegt und begründet. Sie hat jedoch in der Sache keinen Erfolg.

1. Das LG hat in seinem angefochtenen Urteil zutreffend festgestellt, dass die Beklagte im Rahmen der neurologischen Behandlung der Klägerin nicht gegen den fachärztlichen Standard verstoßen hat, insbesondere auch nicht im Frühjahr 1994. Dieses Beweisergebnis hat die Klägerin mit ihrem Berufungsvorbringen nicht entkräftet.

1.1. Der gerichtliche Sachverständige hat ausgeführt, dass die Wahl der geeigneten bildgebenden Diagnostik allein dem – von der Beklagten um Mitwirkung ersuchten – Facharzt für Radiologie, Dr. med. W., oblag. Dieser hatte – ausgehend von dem in der Überweisung angegebenen Untersuchungszweck – eigenverantwortlich zu entscheiden, welche Untersuchungsmethode er zur Verifizierung bzw. Falsifizierung der von ihm begehrten Ausschlussdiagnose anwendet.

1.2...

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