Leitsatz (amtlich)
Wer in Strafhaft einsitzt kann sich grundsätzlich auf seine Leistungsunfähigkeit berufen.
Verfahrensgang
AG Wernigerode (Urteil vom 20.02.2008; Aktenzeichen 11 F 18/08) |
Tenor
1. Auf die Berufung des Beklagten wird das Urteil des AG Wernigerode vom 20.2.2008 - 11 F 18/08 UK, abgeändert.
2. Die Klage wird abgewiesen.
3. Die Kläger tragen die Kosten des Rechtsstreits je zur Hälfte.
4. Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.
Gründe
I. Die Kläger sind die minderjährigen Kinder des Beklagten und leben bei der - von ihm inzwischen geschiedenen - Kindesmutter. Der Beklagte sitzt seit 1.12.2006 wegen - teils schweren - sexuellen Missbrauchs der minderjährigen Halbschwester der Kläger in Haft; er wurde durch Urteil des AG Wernigerode vom 30.5.2007 zu einer Freiheitsstrafe von 3 Jahren und 6 Monaten verurteilt, deren Rest er noch verbüßt.
Nach dem - nicht substantiiert bestrittenen - Tatsachenvortrag der Kläger erzielte der Beklagte vor seiner Inhaftierung als angestellter Elektroniker ein monatliches Nettoeinkommen von 1.700 EUR; im Strafurteil des AG Wernigerode vom 30.5.2007 heißt es indes, das vor seiner Inhaftierung vom Beklagten zuletzt erzielte monatliche Nettoeinkommen habe 1.100 EUR betragen.
Die Kläger begehren den Regel- bzw. Mindestunterhalt und machen geltend, wegen seiner sexuellen Verfehlungen gegenüber ihrer Halbschwester habe der Beklagte seine gegenwärtige Leistungsunfähigkeit selbst verschuldet und könne sich nicht darauf berufen.
Das AG - Familiengericht - hat mit Urteil vom 20.2.2008 den Beklagten für den Zeitraum vom 1.1. bis 31.12.2007 zur Zahlung des 100%igen Regelbetrages der jeweiligen Altersstufe nach § 2 der Regelbetrags-Verordnung und für den Zeitraum ab dem 1.1.2008 zur Zahlung des Mindestunterhalts, jeweils abzgl. des Kindergeldes, verurteilt.
Bei dieser Bewertung hat das AG dem Beklagten ein fiktives Einkommen i.H.v. 1.400 EUR einschließlich 200 EUR aus einem Nebenverdienst zugerechnet. Die Berufung auf Leistungsunfähigkeit sei ihm unterhaltsrechtlich verwehrt, weil er mit seiner Straftat ggü. der Halbschwester der Kläger auch deren seelisches Befinden verletzt, ihr Vertrauen in ihn zerstört und sich selbst als Vertrauens- und Autoritätsperson disqualifiziert habe. Zur Bekräftigung seiner Rechtsansicht hat das AG ein Urteil des OLG Stuttgart vom 9.12.1999 (16 UF 193/99, FamRZ 2000, 1247 f.) herangezogen.
Mit seiner Berufung beanstandet der Beklagte das angefochtene Urteil als rechtlich fehlerhaft und begehrt weiterhin wegen Leistungsunfähigkeit die Abweisung der Klage. Die Berufung auf seine Leistungsunfähigkeit sei ihm nach der Rechtsprechung des BGH nicht nach Treu und Glauben verwehrt, weil seine Straftat keinen unmittelbaren Unterhaltsbezug hätte.
Die Kläger verteidigen das angefochtene Urteil und bitten um Zurückweisung der Berufung.
Wegen des Sachverhalts im Einzelnen wird gem. § 540 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 ZPO auf den Tatbestand der angefochtenen Entscheidung Bezug genommen. Wegen der weiteren Einzelheiten des Berufungsvorbringens der Parteien verweist der Senat auf die zur Akte gewechselten Schriftsätze der Parteien.
II. Die gem. § 511 Abs. 1 und 2 Nr. 1 ZPO statthafte und auch sonst formell zulässige, insbesondere form- und fristgerecht gemäß den §§ 517, 519, 520 ZPO eingelegte und begründete Berufung hat auch in der Sache Erfolg.
Die Kläger haben gegen den Beklagten nach den §§ 1601, 1602 Abs. 1 und 1603 Abs. 1 BGB keinen Unterhaltsanspruch, weil er mit dem in der Strafhaft erzielten Einkommen nicht leistungsfähig ist. Ihm ist auch nicht verwehrt, sich auf seine Leistungsunfähigkeit zu berufen. Die gegenteilige Entscheidung des AG ist von Rechtsfehlern beeinflusst und hat deshalb keinen Bestand, § 513 Abs. 1, Fall 1 ZPO.
1. Das AG hat dem Beklagten unter Hinweis auf das Urteil des OLG Stuttgart vom 9.12.1999 (16 UF 193/99, FamRZ 2000, 1247 f.) die Berufung auf seine unstreitige Leistungsunfähigkeit verwehrt, weil ihn aus dem seiner Inhaftierung zugrunde liegenden sexuellen Missbrauch nicht nur ein strafrechtlicher, sondern auch ein unterhaltsrechtlicher Vorwurf treffe. Bei dem Opfer habe es sich nämlich um die Halbschwester der Kläger gehandelt, die mit ihnen im selben Haushalt lebte. Mit seiner innerfamiliären Straftat habe der Beklagte auch die Kläger in ihrer Seele und ihrem familiären Gefüge verletzt, ihr Vertrauen in ihn völlig zerstört und sich selbst als Vertrauens- und Autoritätsperson disqualifiziert. Die Kläger hätten in ihrer Halbschwester täglich vor Augen, was der Beklagte angerichtet habe.
2. Diese Erwägungen begegnen den von der Berufungsbegründung aufgezeigten rechtlichen Bedenken, § 513 Abs. 1, Fall 1 ZPO.
a) Zunächst hat das AG außer Betracht gelassen, dass das von ihm zur Bekräftigung seiner Rechtsansicht herangezogene Urteil des OLG Stuttgart nicht bestehen geblieben, sondern vom BGH durch Urteil vom 20.2.2002 (XII ZR 104/00, NJW 2002, 1799 f.) aufgehoben worden ist. Das scheint allerdings auch Diederichsen (in: Palandt, BGB, 67. Aufl., § 1603 Rz. 52) überseh...