Verfahrensgang
AG Amberg (Entscheidung vom 02.08.2022) |
LG Amberg (Entscheidung vom 15.02.2023; Aktenzeichen 3 Ns 115 Js 4296/19) |
Tenor
- Auf die Beschwerde des Angeklagten wird der Haftbefehl des Landgerichts Amberg vom 15.02.2023 aufgehoben.
- Die Kosten des Beschwerdeverfahrens einschließlich der notwendigen Auslagen des Angeklagten fallen der Staatskasse zur Last.
Gründe
I.
Der Angeklagte wurde durch Urteil des Amtsgerichts Amberg vom 02.08.2022 wegen vorsätzlicher Körperverletzung u.a. zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von einem Jahr verurteilt.
Gegen das Urteil haben der Angeklagte und die Staatsanwaltschaft A. Berufung eingelegt. Zur Berufungshauptverhandlung vor dem Landgericht Amberg am 15.02.2023 erschien der Angeklagte alkoholisiert, weshalb das Landgericht nach Anhörung der anwesenden Sachverständigen Haftbefehl nach § 230 Abs. 2 StPO erlassen und vollzogen hat, da sich der Angeklagte in einen verhandlungsunfähigen Zustand versetzt habe.
Hiergegen hat der Angeklagte mit Schriftsatz seines Verteidigers vom 16.02.2023 Beschwerde eingelegt, die damit begründet wurde, dass die Prüfung eines milderen Mittels unterlassen worden sei und der Angeklagte die Verhandlungsunfähigkeit jedenfalls nicht verschuldet herbeigeführt habe, da er laut vorliegendem Sachverständigengutachten schwerst alkoholkrank sei und seinen Konsum nicht kontrollieren könne.
Das Landgericht hat der Beschwerde mit Beschluss vom 17.02.2023 nicht abgeholfen.
Die Generalstaatsanwaltschaft hat mit Schreiben vom 24.02.2023, das dem Verteidiger zur Stellungnahme bekanntgegeben wurde, die Beschwerde zur Entscheidung vorgelegt.
II.
Die Beschwerde ist nach § 304 Abs. 1 StPO zulässig und hat in der Sache Erfolg, da der Haftbefehl unverhältnismäßig ist.
Dabei kann die Frage einer genügenden Entschuldigung des Beschwerdeführers dahin stehen.
Ein Haftbefehl nach § 230 Abs. 2 StPO mit dem damit verbundenen Eingriff in dio persönliche Freiheit darf nur dann ergehen, wenn und soweit der legitime Anspruch der staatlichen Gemeinschaft auf vollständige Aufklärung der Tat und rasche Bestrafung des Täters anders nicht gesichert werden kann. Er dient allein der Verfahrenssicherung in Bezug auf die (weitere) Durchführung der Hauptverhandlung und hat nicht etwa den (Selbst-)Zweck, den Ungehorsam des Angeklagten zu sanktionieren.
Zwischen den in § 230 Abs. 2 StPO vorgesehenen Zwangsmitteln besteht ein Stufenverhältnis, d.h. grundsätzlich ist zunächst zwingend das mildere Mittel - nämlich die polizeiliche Vorführung - anzuordnen. Nur dies wird dem verfassungsrechtlichen Gebot gerecht, dass bei einer den Bürger belastenden Maßnahme Mittel und Zweck im angemessenen Verhältnis zueinander stehen müssen. Eine Verhaftung des Angeklagten ist mit dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit nicht zu vereinbaren, wenn bei verständiger Würdigung aller Umstände die Erwartung gerechtfertigt ist, dass der Angeklagte zu dem (nächsten) Hauptverhandlungstermin erfolgreich vorgeführt werden kann.
Wenn das Gericht demgegenüber sofort zum Mittel des Haftbefehls greift, muss aus seiner Entscheidung deutlich werden, dass es eine Abwägung zwischen der polizeilichen Vorführung und dem Haftbefehl vorgenommen hat. Die Gründe, warum ausnahmsweise sofort die Verhaftung des Angeklagten angeordnet worden ist, müssen tragfähig sein und in dem Beschluss in einer Weise schlüssig und nachvollziehbar aufgeführt werden, dass sie in Inhalt und Umfang eine Überprüfung des Abwägungsergebnisses am Grundsatz der Verhältnismäßigkeit nicht nur für den Betroffenen selbst, sondern auch für das die Anordnung treffende Gericht im Rahmen seiner Eigenkontrolle gewährleisten. Von entsprechenden Darlegungen kann nur abgesehen werden, wenn die Nachrangigkeit des Freiheitsanspruchs offen zutage liegt und sich daher von selbst versteht.
Das Landgericht hat die in der Hauptverhandlung vom 15.02.2023 anwesende Sachverständige nicht befragt, ob durch eine frühzeitige Ingewahrsamnahme und Vorführung des Angeklagten zur nächsten Hauptverhandlung - gegebenenfalls unter Hinzuziehung eines Facharztes - eine Verhandlungsfähigkeit hergestellt werden könne, zumal der Angeklagte sich bereit gezeigt hatte, zur Verhandlung zu erscheinen und die Sachverständige ausgeführt hat, der Angeklagte sei in Anbetracht seiner Erkrankung bei einem Alkoholgehalt von einem Promille weniger verhandlungsfähig als bei zwei Promille.
Hinzukommt, dass der Verhältnismäßigkeitgrundsatz erfordert, dass die Hauptverhandlung in angemessener Frist durchgeführt wird und vorliegend nicht geprüft wurde, ob zeitnah eine Herstellung der Verhandlungsfähigkeit bei zeitnaher Fortsetzung der Hauptverhandlung hergestellt kann. Ein neuer Hauptverhandlungstermin wurde bis jetzt nicht bestimmt, hierzu hätte spätestens zum Zeitpunkt der Abhilfeentscheidung Veranlassung bestanden.
Vor diesem Hintergrund ist der Haftbefehl unverhältnismäßig, er wird daher aufgehoben. Angesichts des Fehlens eines neuen Hauptverhandlungstermins und Feststellungen zur Erfolgsaussicht einer Vorführung wird davo...