Leitsatz (amtlich)
›Die Regelung der Rechtsfolgen einer Anfechtung des Versicherungsvertrages wegen arglistiger Täuschung (§§ 21, 22, 40 Abs. 1 VVG; 123, 142 Abs. 1 BGB) verstößt gegen das Verfassungsrecht (Übermaßverbot und Gleichheitssatz) sowie gegen das vertragliche Äquivalenzprinzip. Die dadurch entstehende sogen. Ausnahmelücke ist über eine verfassungskonforme Auslegung im Wege einer teleologischen Reduktion zu schließen.
2. In Anlehnung an die richterrechtlich entwickelten Grundsätze über fehlerhafte Dauerschuldverhältnisse (Arbeits- und Gesellschaftsverhältnisse) ist die Ausnahmelücke dahingehend zu schließen, daß die rückwirkende Nichtigkeit der Anfechtung bei einem vollzogenen Versicherungsvertrag auf eine ex nunc-Wirkung ab Anfechtungserklärung reduziert wird.
3. Diese ex nunc-Wirkung gilt nur für solche Versicherungsfälle, die mit den verschwiegenen - erhöhten - Gefahrumständen nicht in Zusammenhang stehen. Für letztere verbleibt es bei der gesetzlichen ex tunc-Wirkung.
4. Anders als beim Rücktritt gemäß §§ 16 ff. VVG sind im Fall der arglistigen Täuschung durch den Versicherungsnehmer entschädigungspflichtig nur solche Versicherungsfälle vor Anfechtung, in denen der mangelnde Zusammenhang im Sinne des § 21 VVG unstreitig oder evident ist.‹
Verfahrensgang
LG Nürnberg-Fürth (Urteil vom 21.07.1999; Aktenzeichen 9 O 8609/98) |
Tatbestand
Von der Darstellung des Tatbestandes wird gemäß § 543 Abs. 1 ZPO abgesehen.
Im Berufungsverfahren hat keine Beweisaufnahme stattgefunden.
Entscheidungsgründe
I.
Die Berufung der Beklagten ist zulässig, §§ 511 ff. ZPO.
II.
Das Rechtsmittel hat auch in der Sache selbst Erfolg.
Ein Anspruch des Klägers auf Auszahlung der Versicherungssumme besteht nicht, weil die Beklagte den Versicherungsvertrag rechtswirksam gemäß § 123 BGB angefochten hat und deshalb sämtliche Vertragsansprüche des Klägers erloschen sind:
1. Arglistige Täuschung, § 123 BGB:
a) Die Versicherungsnehmerin, die verstorbene Ehefrau des Klägers, hat bei Abschluß des klagegegenständlichen Versicherungsvertrages den objektiven Tatbestand des § 123 Abs. 1 BGB durch pflichtwidriges Verschweigen ihrer Vorerkrankungen erfüllt:
In Ziffer 3 ihrer Gesundheitsfragen im Antragsformular vom 01. Dezember 1992 hatte die Beklagte nach bestehenden Krankheiten, Unfallfolgen, Gesundheitsstörungen oder sonstigen Beschwerden gefragt. Solche Fragen haben einen Dichtigkeitsgrad, der bis auf Bagatellen alles anzugeben verlangt, also selbst gesundheitliche Beeinträchtigungen unterhalb eines Krankheitswertes (vgl. BGH VersR 94, 1457; Römer RuS 98, 46).
Die Versicherungsnehmerin hat diese Frage unstreitig mit "nein" beantwortet. Dies war objektiv unrichtig. Unbestritten litt die Versicherungsnehmerin bereits Monate vor der Antragstellung (01.12.1992) an einer ausgeprägten mikrozytären Anaemie (vgl. Bericht des St. A K, D). Diese Erkrankung war erstmals durch den Urologen Dr. E K im März 1992 festgestellt worden (vgl. Attest Dr. K vom 04.08.1992 i.V.m. der Aussage des behandelnden Hausarztes Dr. T E, Protokoll des Amtsgerichts D vom 19.05.1999, Seite 73 RS d.A.)
Diese Krankheit hatte bis zur Antragstellung bereits einen chronischen Verlauf angenommen. Im Bericht des K St. A vom 10.08.1992 wird in der Vorgeschichte eine zunehmende Müdigkeit mit Belastungsdyspnoe seit ca. einem halben Jahr geschildert. Der Kläger hat insoweit nicht bestritten, daß diese Angaben von der Versicherungsnehmerin, wenn auch erst auf ärztliche Fragen hin, stammen (vgl. Schriftsatz des Klägers vom 09.11.1999, Seite 4 u. 5, Bl. 152/153 d.A.). Legt man aber dies zugrunde, so muß von einer chronischen Entwicklung gesprochen werden (vgl. Pschyrembel, Klinisches Wörterbuch, 256. Aufl., Stichwort Anaemie, Seite 71).
Wegen dieser Erkrankung ist die Versicherungsnehmerin auch von dem Hausarzt Dr. E bis Dezember 1992 medikamentös behandelt worden. Diese Behandlung führte nicht zur Beseitigung der Krankheit, sondern lediglich zu einer Milderung der Symptome (vgl. Aussage Dr. E, a.a.O., Seite 3, Bl. 73 d.A.). Die Feststellung des Krankenhauses St. A vom 10.08.1992 über die ungeklärte Ursache der Krankheit blieb bestehen.
Bei dieser Sachlage war die Versicherungsnehmerin verpflichtet, die genannte Krankheit bei Antragstellung anzugeben. Zwar setzt die Anzeigepflicht aus § 16 Abs. 1 Satz 1 VVG nicht nur das objektive Vorliegen der Krankheit voraus, sondern auch die Kenntnis des Versicherungsnehmers hiervon. Nur bekannte Gefahrumstände sind anzuzeigen (vgl. BGH VersR 94, 711, Römer, a.a.O., Seite 46). Nach dem gesamten Beweisergebnis ist jedoch davon auszugehen, daß sich die Versicherungsnehmerin bei Antragstellung dieser Krankheit auch bewußt war. Unstreitig wurde sie nach Entdeckung der Krankheit zur Feststellung der Ursache am 30.07.1992 in das St. A K eingewiesen und dort eine Woche langwierigen Untersuchungen unterzogen. Hierbei wurde nicht die Krankheit selbst bezweifelt, lediglich deren Ursache blieb ungeklärt. Entsprechend den Empfehlungen des Krankenhauses wurde die Versicherungsn...