Entscheidungsstichwort (Thema)

Zuordnung der zeitlich folgenden nächsten organischen Schädigung (hier: Untergang von Nervenzellen als Folge der Gefäßenge) zum haftungsrechtliche Primärschaden; Erstreckung der Beweislastumkehr auch auf diesen Schaden; Beweisführung bzgl. des der Behandlerseite obliegenden Beweises mangelnder Ursächlichkeit

 

Leitsatz (amtlich)

1. Der haftungsrechtliche Primärschaden besteht nicht nur in der Fortdauer des krankhaften Zustands, der Anlass für die inkriminierte Behandlung gegeben hat (hier: Gefäßenge infolge einer Vaskulitis), sondern umfasst auch die zeitlich folgende nächste organische Schädigung (hier: Untergang von Nervenzellen als Folge der Gefäßenge), so dass sich die Beweislastumkehr auch auf diesen Schaden erstreckt.

2. Der nach § 630 h Abs. 5 BGB der Behandlerseite obliegende Beweis mangelnder Ursächlichkeit ist erst dann geführt, wenn sich die Kausalität als allenfalls theoretischer Zusammenhang darstellt und nicht im Sinne einer realen Möglichkeit greifbar ist.

 

Normenkette

BGB § 630 h Abs. 5

 

Verfahrensgang

LG Osnabrück (Urteil vom 26.04.2023; Aktenzeichen 2 O 3573/20)

 

Tenor

Auf die Berufung des Klägers wird das Urteil der 2. Zivilkammer des Landgerichts Osnabrück vom 26.4.2023 zusammen mit dem Verfahren aufgehoben:

1. Es wird festgestellt, dass die Beklagte verpflichtet ist, dem Kläger sämtliche materiellen und weiteren derzeit nicht vorhersehbaren Schäden, die im Zusammenhang mit der Behandlung vom 29. 6. 2017 entstanden sind bzw. zukünftig entstehen, zu ersetzen, sofern diese Ansprüche nicht auf einen oder mehrere Träger der Sozialversicherung oder Dritte übergegangen sind.

2. Die Klage ist dem Grunde nach gerechtfertigt.

Das Verfahren wird zur weiteren Verhandlung an das Landgericht zurückverwiesen.

Die Kosten des Berufungsverfahrens bleiben der Schlussentscheidung vorbehalten.

Dieses Urteil ist vorläufig vollstreckbar. Der beklagten Partei bleibt nachgelassen, die Zwangsvollstreckung der klagenden Partei durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des zu vollstreckenden Betrages abzuwenden, wenn nicht die klagende Partei zuvor Sicherheit in Höhe von 110 % des zu vollstreckenden Betrages geleistet hat.

Die Revision wird nicht zugelassen.

 

Gründe

I. Der Kläger erlitt im Alter von 5 Jahren einen Schlaganfall. Die Behandler der Beklagten gingen anfangs von einem epileptischen Anfall aus. Ein Wach-EEG, das kurz nach Aufnahme im Hause der Beklagten gegen 12:27 Uhr gefertigt wurde, zeigte indessen keine epilepsietypischen Potentiale. Gleichwohl wurde erst um 20:14 eine MRT veranlasst, welche die Verdachtsdiagnose eines Mediainfarktes ergab. In der Zeit von 22:10 - 23:30 untersuchte man den Kläger im Wege der Angiografie mittels Katheter im Klinikum Ort2; diese Untersuchung erbrachte den Verdacht eines Infarktes infolge einer Vaskulititis. In der Folge wurde der Kläger dann im Universitätsklinikum Ort3 behandelt. Als Dauerschäden des Infarktes sind bei ihm eine Hemiparese, ein Spasmus und eine Dystonie verblieben.

Das Landgericht hat ein neuropädiatrisches Gutachten des Sachverständigen FF eingeholt. Dieser hat die kinderärztliche Diagnose einer Epilepsie für vertretbar erachtet, weil ein Schlaganfall bei Kindern im Alter des Klägers eine absolute Rarität sei. Er hat allerdings einen groben Befunderhebungsfehler darin gesehen, dass man auf das Ergebnis des Wach-EEG nicht sofort eine MRT veranlasst habe. Dies sei neurologischer Facharztstandard. Er gehe davon aus, dass das EEG von Neurologen befundet worden sei. Der EEG - Befund spreche für eine lokale Funktionsstörung im Hirn, die drei Ursachen hätte haben können, nämlich einen Tumor, einen Hirninfarkt oder einen epileptischen Anfall. Da keine Hinweise auf epilepsietypischen Potenziale vorgelegen hätten, sei ein epileptischer Anfall eher unwahrscheinlich gewesen; mit Blick auf die Differenzialdiagnose Tumor oder Hirninfarkt hätte man bei diesem Befund sofort eine MRT anordnen müssen. Das Landgericht ist dieser Wertung des Sachverständigen gefolgt und hat die Klage aber gleichwohl abgewiesen, weil sich eine Ursächlichkeit nicht habe feststellen lassen.

Bei früherer Entdeckung des Infarktes hätten sich keine anderen Behandlungsoptionen ergeben; man hätte lediglich jene Therapie, die dann stattgefunden hat, früher durchführen können. Es lasse sich jedoch nicht feststellen, dass die Schäden des Klägers durch diese Verzögerung verursacht worden seien; dies gelte auch unter Berücksichtigung der Beweislastumkehr, die aus dem groben Befunderhebungsfehler folge.

Jene Schäden, für die der Kläger Schadensersatz begehrt, seien Sekundär - und nicht Primärschäden. Der Primärschaden sei hier darin zu sehen, dass der Schlaganfall von 12:27 bis 22:10 Uhr unbehandelt geblieben sei. Für den Sekundärschaden gelte das Beweismaß des § 287 ZPO, d. h. eine mindest überwiegende Wahrscheinlichkeit müsse dafür bestehen, dass die Schäden durch den Primärschaden verursacht worden seien. Dies sei jedoch nicht festzustellen, weil der Sachverständiger ausgeführt habe, d...

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