Leitsatz (amtlich)

1. Im Falle schwerster und dauerhafter Schädigungen, die der Geschädigte in jungen Jahren bewusst erlebt und von denen anzunehmen ist, dass sie ihn lebenslang in der Lebensführung erheblich beeinträchtigen werden, kann ein Schmerzensgeld von 800.000 EUR angemessen sein.

2. Dass Bewusstsein um den Verlust der bisherigen Lebensqualität und die voraussichtlich lebenslange Dauer der Schädigungen sind maßgebliche Gesichtspunkte bei der Bemessung des Schmerzensgeldes.

3. Schmerzensgelder, die wegen Verlustes der Persönlichkeit zugesprochen sind, taugen nicht als Referenzmaßstab für Fälle, in denen der Geschädigte ohne jede intellektuelle Einschränkung die Leiden und den Verlust lebenslang bewusst erlebt.

 

Normenkette

BGB § 253

 

Verfahrensgang

LG Aurich (Aktenzeichen 2 O 165/12)

 

Tenor

Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Landgerichts Aurich vom 23.11. 2018 wird mit der Maßgabe zurückgewiesen, dass von dem ausgeurteilten Schmerzensgeld nebst Zinsen folgende Zahlungen der Beklagten in Abzug zu bringen sind:

am 19.11.2015 100.000 EUR

am 11.12.2015 50.000 EUR

am 11.12.2018 100.000 EUR.

Die Kosten der Berufung werden der Beklagten auferlegt.

Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar. Der Beklagten bleibt nachgelassen, die Zwangsvollstreckung des Klägers gegen Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des vollstreckbaren Betrages abzuwenden, wenn nicht der Kläger vor der Vollstreckung seinerseits Sicherheit in Höhe von 110 % des zu vollstreckenden Betrages geleistet hat.

Die Revision wird nicht zugelassen.

 

Gründe

I. Die Parteien streiten um Schmerzensgeld in Folge ärztlicher Behandlungsfehler.

Der am TT.MM 2006 geborene Kläger wurde am Nachmittag des TT. MM 2011, also im Alter von 5 Jahren, unter Fieber und Schüttelfrost mit dem Krankenwagen in das Krankenhaus der Beklagten gebracht worden. Erst am Morgen des nächsten Tages gegen 07:00 Uhr aus Anlass des Schichtwechsels wurden die Behandler auf großflächige dunkle Flecken im Gesicht und am Körper des Klägers aufmerksam, die sie zutreffend als hämmorrhagische Nekrosen in Folge einer Menningokokkensepsis einordneten. Zu diesem Zeitpunkt war der Kläger bereits seit mehreren Stunden somnolent.

Wie das Landgericht mit rechtskräftigem Grundurteil vom 21.10.2013, bestätigt durch Senatsurteil vom 28.10.2015, festgestellt hat, ist den Behandlern des Klägers in diesem Zusammenhang der Vorwurf eines groben Behandlungsfehlers zu machen, weil der zuständige Pfleger den Zustand des Klägers morgens zwischen 03:00 und 04:00 trotz entsprechender Hinweise der Mutter ignorierte und trotz der erkennbaren hämmorrhagischen Nekrosen keinen Arzt hinzuzog. Weiterhin war dem Pfleger als grobe Unterschreitung der Standards anzulasten, dass er in der irrigen Annahme, der somnolente Kläger schlafe, vermeintlich um ihn nicht zu wecken, darauf verzichtete, eine Braunüle wieder anzulegen, die sich der Kläger gezogen hatte; Letztes führte dazu, dass dem ohnehin durch Fieber und wiederholtes Erbrechen dehydriertem Kläger über Stunden keine Flüssigkeit zugeführt wurde.

Nach Erkennen der Erkrankung wurde der Kläger unter der Diagnose einer Sepsis und eines Waterhouse-Friedrichs-Syndroms (WFS) mit Purpura fulminans vom Intensivteam der Kinderklinik EE übernommen und per Rettungswagen in das Klinikum EE verbracht. Der Aufnahmebefund dort beschreibt den Zustand des Klägers wie folgt: "5 Jahre alter Junge in schwer beeinträchtigtem AZ, intubiert und beatmet, Katecholamine über intraossären Zugang, grau - fahles Hautkolorit, ausgeprägte multiple Hauteinblutungen und beginnende Nekrosen an allen 4 Extremitäten und im Gesicht; periphere Pulse nicht sicher palpabel, zentrale Pulse schwach, Extremitäten kühl (...), unter Analgosedierung keine Spontanmotorik, schlaffer Muskeltonus (...), keine sichere Lichtreaktion".

Nachdem dort die mehrwöchige, lebensrettende Akutversorgung der Sepsis abgeschlossen war, wurde der Kläger extubiert und Ende des Monats (...) ins FF nach Ort2 verlegt, wo die erste Versorgung der Nekrosen und einer Gangrän an beiden Unterschenkeln über die Dauer von 2 Monaten stattfand. Im Zuge dieser Versorgung wurden dem Kläger beide Unterschenkel amputiert und die rechte Kniescheibe entfernt. Daran anschließend wurde der Kläger Ende (Monat) von der Klinik und Poliklinik für Technische Orthopädie und Rehabilitation Ort3 zur weiteren Behandlung übernommen, wobei er sich im (Monat) 2011 bereits der ersten operativen Revision der Stümpfe im FF unterziehen musste. Bis das Körperwachstum des Klägers abgeschlossen ist, müssen die Stümpfe regelmäßig operativ einer Revision unterzogen werden. Zum Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung vor dem Senat hat sich der Kläger bislang 16mal einer solchen schmerzhaften, operativen Revision der Stümpfe unterziehen müssen. Wieviel weitere Operationen insoweit noch erforderlich sind, lässt sich nicht abschätzen.

Wegen des großflächigen Narbengewebes, das ebenfalls nicht wie unbeschädigte Haut mitwächst, sind bis zum Abschluss des Körperwachstums Anpassungsoperatione...

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