Leitsatz (amtlich)
1. Die Notvergabe nach Art. 5 Abs. 5 VO (EG) Nr. 1370/2007 setzt die Unterbrechung des Verkehrsdienstes oder die unmittelbare Gefahr des Eintretens einer solchen Situation voraus. Das ist der Fall, wenn bei Auslaufen des Vertrags eine wettbewerbliche Vergabe nicht mehr erfolgen kann. Es kommt nicht darauf an, ob die Unterbrechung nicht vorhersehbar und planwidrig war.
2. Es bleibt offen, ob jegliche auch nur ansatzweise wettbewerblichen Verfahren (Wettbewerb "light") eine Notlage in diesem Sinn ausschließen. Denn ein Wettbewerb setzt zumindest voraus, dass der Auftraggeber die bereits vorliegenden Angebote prüft und eine Auswahl trifft. Weniger ist kein Wettbewerb.
Normenkette
EGV 1370/2007 Art. 5 Abs. 5; GWB § 97 Abs. 6, § 99 Nr. 2, §§ 155, 160 Abs. 2, 3 S. 1
Tenor
1. Auf die sofortige Beschwerde des Antragsgegners und unter Zurückweisung der Anschlussbeschwerde der Antragstellerin wird der Beschluss der Vergabekammer Mecklenburg-Vorpommern vom 15.08.2019 - 1 VK 2/19 - aufgehoben und der Nachprüfungsantrag der Antragstellerin zurückgewiesen.
2. Die Kosten des Verfahrens vor der Vergabekammer und des Beschwerdeverfahrens einschließlich der notwendigen Auslagen des Antragsgegners trägt die Antragstellerin. Im Übrigen erfolgt keine Erstattung.
3. Die Hinzuziehung anwaltlicher Bevollmächtigter durch den Antragsgegner im Verfahren vor der Vergabekammer und dem Beschwerdeverfahren war notwendig.
Gründe
I. Gegenstand des Beschwerdeverfahrens ist eine geplante Direktvergabe von Leistungen des Schienenpersonennahverkehrs (im Folgenden SPNV) im Teilnetz "Ostseeküste-Ost".
Der Antragsgegner ist der für die Bestellung und Finanzierung des SPNV in Mecklenburg-Vorpommern zuständige Aufgabenträger. Er schließt hierzu, vertreten durch die V. mbH (im Folgenden V.), Verträge mit Eisenbahnverkehrsunternehmen, auf deren Grundlage diese entsprechenden Verkehrsleistungen erbringen. Unter anderem bestehen derzeit zwischen dem Antragsgegner und der Antragstellerin Verkehrsverträge über SPNV-Leistungen in den Teilnetzen "Ostseeküste" und "Usedom". Grundlage für die Leistungserbringung im Teilnetz "Ostseeküste" ist ein Verkehrsvertrag zwischen der Antragstellerin und dem Antragsgegner sowie den Bundesländern Schleswig-Holstein und Freie und Hansestadt Hamburg aus dem Jahr 2007. Die Laufzeit des Verkehrsvertrags "Ostseeküste" endet am 14.12.2019. Die Laufzeit des zwischen dem Antragsgegner und der Antragstellerin bestehenden Verkehrsvertrags "Usedom" endet im Dezember 2030. In diesem Vertrag ist aber geregelt, dass die Leistungen der Linie RB21 (Stralsund - Züssow) bereits am 14.12.2019 aus dem Leistungsvolumen des Verkehrsvertrags herausgelöst werden. Die vertragliche Bindung dieser Verkehrsleistungen endet daher ebenfalls am 14.12.2019. Eine Verlängerungsoption enthalten die Verträge nicht.
Der Antragsgegner hatte zunächst beabsichtigt, die ab dem 15.12.2019 zu erbringenden Verkehrsleistungen im Wege eines wettbewerblichen Vergabeverfahrens zu vergeben. Hierzu hatte er am 18.12.2014 eine Vorinformation gemäß Art. 7 Abs. 2 VO (EG) Nr. 1370/2007 im Supplement zum EU-Amtsblatt veröffentlicht und darin seine diesbezügliche Absicht mitgeteilt. Das wettbewerbliche Vergabeverfahren sollte danach ursprünglich Ende 2015 beginnen. Hierzu kam es bislang nicht. Stattdessen entschied sich der Antragsgegner, die Leistungen des Teilnetzes "Ostseeküste" künftig aufzuteilen in die Teilnetze "Ostseeküste West" (Leistungen im Abschnitt Hamburg Hbf. - Rostock Hbf.) und "Ostseeküste Ost" (Leistungen im Abschnitt Rostock Hbf. - Sassnitz/Binz). Das Teilnetz "Ostseeküste-Ost" wurde dabei um die ebenfalls im Dezember 2019 aus der vertraglichen Bindung herausfallende Linie RB21 aus dem Teilnetz "Usedom" ergänzt.
Nach ersten Sondierungen mit der Beigeladenen entschloss sich der Antragsgegner ausweislich eines auf Dezember 2018 datierten Aktenvermerks der V., die Beigeladene mit der Erbringung von Verkehrsleistungen im Teilnetz "Ostseeküste-Ost" zu beauftragen. Der Auftrag sollte als Notmaßnahme nach Art. 5 Abs. 5 der Verordnung (EG) Nr. 1370/2007 vergeben werden und eine Laufzeit von Dezember 2019 bis Dezember 2021 haben. Zugleich beabsichtigte der Antragsgegner, die Antragstellerin im Zeitraum von Dezember 2019 bis Dezember 2021 mit der interimsweisen Erbringung der Verkehrsleistungen im Teilnetz "Ostseeküste-West" zu beauftragen. Zur Begründung hieß es im Vermerk, verschiedene Umstände und Ereignisse hätten die 2014 eingeleiteten Planungen für die Durchführung des Vergabeverfahrens verzögert. So sei die Einholung eines Gutachtens zum Integralen Taktfahrplan Mecklenburg-Vorpommern erforderlich gewesen, dessen Erstellung sich verzögert habe. Der Entwurf des Abschlussberichts für das Gutachten sei im November 2018 vorgelegt worden, erst im Anschluss daran habe hinreichende Planungssicherheit unter anderem für die Fahrplangestaltung bestanden. Abstimmungen mit anderen Aufgabenträgern hätten im November 2018 zu der Entscheidung geführt, die Leistunge...