Leitsatz (amtlich)
1. Hat der Arzt erhobene oder sonst vorliegende Befunde falsch interpretiert und deshalb nicht die aus der berufsfachlichen Sicht seines Fachbereichs gebotenen - therapeutischen oder diagnostischen - Maßnahmen ergriffen, liegt ein Diagnoseirrtum vor (Anschluss an: BGH, Urteil vom 21.12. 2010 - VI ZR 284/09, juris).
2. Haben aufgetretene Symptome mehrere Ursachen, muss ein Arzt seine zunächst gestellte Verdachtsdiagnose kritisch überprüfen und bei Anhaltspunkten für deren Unrichtigkeit weitergehende diagnostische Maßnahmen veranlassen. Bei Vorliegen mehrerer Diagnosemöglichkeiten, die alternativ als Erklärung für die vorliegenden Symptome oder Befunde in Betracht zu ziehen sind (Differentialdiagnose), ist regelmäßig die gefährlichere Diagnose erst auszuschließen, bevor weniger gefährliche Erkrankungen verifiziert oder ausgeschlossen werden.
3. Hier: Ursprünglicher Verdacht auf Sinusitis bei Vorliegen einer Pneumokokkenmeningitis sowie einer Sepsis.
Normenkette
BGB §§ 611, 823
Verfahrensgang
LG Rostock (Urteil vom 21.12.2017; Aktenzeichen 10 O 1170/14 (2)) |
Tenor
1. Die Berufungen des Beklagten zu 4) und der Beklagten zu 5) gegen das Grund- und Teilurteil des Landgerichts Rostock vom 21.12.2017, Az.: 10 O 1170/14 (2), werden zurückgewiesen.
2. Die Beklagten zu 4) und 5) haben die Kosten des Berufungsverfahrens gesamtschuldnerisch zu tragen.
3. Das in Ziffer 1. genannte Urteil sowie diese Entscheidung sind jeweils ohne Sicherheitsleistung vorläufig vollstreckbar. Die Beklagten zu 4) und zu 5) können die Vollstreckung wegen der Kosten gegen Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des vollstreckbaren Betrages abwenden, sofern nicht der Kläger vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 110 % des zu vollstreckenden Betrages leistet.
4. Die Revision wird nicht zugelassen.
Beschluss
Der Streitwert wird für das Berufungsverfahren auf bis 550.000,00 Euro festgesetzt.
Gründe
I. Der am 02.09.2004 geborene Kläger hat gegen die Beklagten zu 1) bis 5) Ansprüche auf Schadensersatz, Schmerzensgeld, Zahlung einer Schmerzensgeldrente sowie Feststellung der Einstandspflicht für alle zukünftigen Schäden nach vermeintlich fehlerhafter Heilbehandlung geltend gemacht. Am Berufungsverfahren sind nur noch die Beklagten zu 4) und zu 5) beteiligt.
Der Kläger wurde zwischen dem 02.09.2005 bis zum 04.09.2005 von seiner Mutter insbesondere wegen Fiebers jeweils bei den beklagten Ärztinnen vorgestellt und von diesen behandelt. Er erkrankte an einer Pneumokokkenmeningitis sowie an einer Sepsis, die am 05.09.2005 festgestellt wurden und in deren Folge er dauerhaft mehrfach schwerstbehindert ist.
Bereits im März 2005 befand sich der Kläger wegen des Verdachts auf eine Meningitis in stationärer Behandlung. Eine Impfung gegen Pneumokokken erhielt er dennoch nicht. In den zwei Wochen vor den hier streitgegenständlichen Behandlungen wurde er - zuletzt am 30.08.2005 - bei seiner behandelnden Kinderärztin Dr. H. vorgestellt. Weil diese am Freitag, dem 02.09.2005, dienstfrei hatte, stellte die Mutter ihren damals gerade einjährigen Sohn gegen 08.00 Uhr bei der mit Dr. H. gemeinsam praktizierenden Beklagten zu 3) vor, da sie den Eindruck hatte, dass sich ein Infekt auf die Bronchien ausgedehnt habe. Im Anschluss an die Untersuchung brachte die Mutter den Kläger in die Kindertagesstätte, wo sie ihn am Nachmittag aufgrund der Mitteilung, dass das Kind fiebere, wieder abholte.
Am Sonnabend, dem 03.09.2005, begab sich die Mutter mit dem Kläger gegen 08.00 Uhr in den kinderärztlichen Notdienst in Rostock Lütten-Klein, in dem die Rechtsvorgängerin des Beklagten zu 4), Dipl.-Med. G., ebenfalls Kinderärztin, Dienst tat. Diese untersuchte den Kläger, befundete eine leichte Entzündung der Bindehaut des rechten Auges und eine leichte Reizung des linken Auges und diagnostizierte eine akute respiratorische Erkrankung (ARE) und den Verdacht auf eine beginnende Sinusitis und Konjunktivitis rechts. Sie empfahl weiterhin die Gabe der Umckaloabo-Tropfen sowie das Inhalieren von Kochsalz. Ferner verschrieb sie Nasen- und Augentropfen sowie Paracetamol. Die Mutter gab die Medikamente wie verordnet, woraufhin sich die Reizung am Auge besserte. Zur Fiebersenkung verabreichte sie Ibuprofen und Paracetamol.
Am Sonntag, dem 04.09.2005, begab sich die Mutter gegen 17.30 Uhr mit dem Kläger erneut in den kinderärztlichen Notdienst, wo die Beklagte zu 5) Dienst tat. Nach klinischer Untersuchung überwies diese den Kläger wegen eines geröteten, aber schlecht einsehbaren Mittelohrs in die Klinik und Poliklinik für Hals-Nasen-Ohren-Heilkunde der Beklagten zu 1), mit der Bitte um Klärung einer eventuellen Indikation einer Parazentese zur Eröffnung des Trommelfells.
Dort wurden die Eltern mit dem Kläger am 04.09.2005 gegen 19.00 Uhr bei der Beklagten zu 2), einer seinerzeit bei der Beklagten zu 1) angestellten HNO-Ärztin, vorstellig. Diese untersuchte das Kind, befundete einen Infekt der oberen Luftwege und einen Tubenmittelohrkatarrh und entließ es mit entsprechenden Hinweisen zu...