Entscheidungsstichwort (Thema)
Sicherungsverwahrung. Konventionsverletzung in sog. Zehnjahresfällen
Leitsatz (amtlich)
Das Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte vom 17.12.2009 "M. ./. Deutschland" - 19359/04 - zwingt nicht dazu, in Sicherungsverwahrung Untergebrachte in sog. Zehnjahresfällen sofort und ohne nähere Prüfung allein aufgrund dieses Urteils zu entlassen.
Normenkette
EMRK Art. 5, 7; GG Art. 2 Abs. 2 S. 2, Art. 103 Abs. 2; StGB §§ 66, 67d, 67e
Verfahrensgang
LG Heilbronn (Aktenzeichen 1 b StVK 708-709/05) |
Tatbestand
Der heute 63 Jahre alte Verurteilte ist erstmals mit 21 Jahren strafrechtlich in Erscheinung getreten und vielfach vorbestraft. Seit 1971, also seit seinem 24. Lebensjahr, hat er sich - für den Zeitraum bis 1979 mit einigen Unterbrechungen - in Untersuchungs- oder Strafhaft befunden. Seit 1988 bis heute, also über 21 Jahre lang, ist er in Sicherungsverwahrung untergebracht. Sie beruht auf drei Verurteilungen wegen 1973, 1978 und 1983 begangener schwerer Sexualdelikte. In dem dritten Urteil des Landgerichts Stuttgart vom 27.09.1985 wurde Sicherungsverwahrung angeordnet, weil angesichts der von den Sachverständigen festgestellten schwerwiegenden Persönlichkeitsstörung des Angeklagten mit fast zwanghaftem Handeln zur Sicherung seiner Ziele von ihm die Begehung künftiger schwerwiegender Taten, durch welche die Opfer seelisch oder körperlich schwer geschädigt werden, mit hoher Wahrscheinlichkeit zu erwarten waren. Der Verurteilte verbüßte die Strafe aus dem Urteil vom 27.09.1985 vollständig bis zum 24.09.1988. Mit Beschluss vom 03.08.1988 ordnete das Landgericht Karlsruhe den anschließenden Vollzug der Sicherungsverwahrung an, die nach damaligem Recht höchstens zehn Jahre lang vollzogen werden durfte. Diese Höchstfrist fiel mit dem Gesetz zur Bekämpfung von Sexualdelikten und anderen gefährlichen Straftaten vom 26.01.1998 (BGBl. I S. 160) fort. Daher erklärte das Landgericht Freiburg nach Vollzug von zehn Jahren Sicherungsverwahrung mit Beschluss vom 09.03.1999 die Sicherungsverwahrung nicht für erledigt und ordnete deren Fortdauer an. Seitdem befindet sich der Verurteilte ununterbrochen in Sicherungsverwahrung. Er ist vielfach nervenärztlich und kriminalprognostisch begutachtet worden, lehnt freilich seit 2000 eine psychiatrische Exploration ab. Deshalb ist das derzeit jüngste Gutachten vom 04.02.2010 ein sog. Aktengutachten; der Gutachter stellt eine ungünstige Prognose und spricht sich für die Fortdauer der Sicherungsverwahrung aus. Auf dieser Grundlage hat das Landgericht - Strafvollstreckungskammer - Heilbronn am 19.03.2010 beschlossen, dass die Unterbringung des Verurteilten in der Sicherungsverwahrung fortzudauern habe; das Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGRM) vom 17.12.2009 ändere nichts an der Rechtslage, weil es noch nicht rechtskräftig sei. Dagegen hat der Verurteilte durch seine Verteidigerin sofortige Beschwerde eingelegt. Im Beschwerdeverfahren hat der Senat ein (weiteres) Sachverständigengutachten zur Kriminalprognose des Verurteilten in Auftrag gegeben, da der Verurteilte sich bereit erklärt hat, sich von diesem Gutachter psychiatrisch explorieren zu lassen. Am 12.05.2010 hat die Verteidigerin des Verurteilten unter Hinweis auf die am 10.05.2010 eingetretene Rechtskraft des Urteils des EGMR vom 17.12.2009 beantragt festzustellen, dass die Sicherungsverwahrung erledigt ist, und anzuordnen, dass der Verurteilte aus der Unterbringung in der Sicherungsverwahrung zu entlassen ist. Der Senat hat den Antrag zurückgewiesen.
Entscheidungsgründe
II. Zwar spricht Einiges dafür, dass die Unterbringung des Verurteilten in Sicherungsverwahrung seit Ablauf der ersten Zehnjahresfrist im Jahr 1998 der Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten (BGBl. 2002 II S. 1054 - MRK) widerspricht (1.). Daraus folgt jedoch nicht, dass der Verurteilte sofort und unter Übergehung des beim Senat anhängigen Beschwerdeverfahrens aus der Unterbringung zu entlassen wäre (2.).
1. Nach Maßgabe der Entscheidung des EGMR (Kammer der fünften Sektion), Urt. v. 17.12.2009 "M. ./. Deutschland" - 19359/04 -, NStZ 2010, 263 ff. mit Bespr. Kinzig aaO. S. 233 ff. spricht Einiges dafür, dass die Unterbringung des Verurteilten in der Sicherungsverwahrung seit Ablauf der ursprünglich geltenden Zehnjahresfrist im Jahr 1998 konventionswidrig ist, nämlich Art. 5 Abs. 1 MRK (Recht auf Freiheit) und Art. 7 Abs. 1 MRK (keine Strafe ohne Gesetz) verletzt.
a) In seinem Urteil vom 17.12.2009 hatte der EGMR über die Beschwerde des Herrn M. zu entscheiden, gegen den 1986 die Unterbringung in der Sicherungsverwahrung angeordnet worden war und der nach Ablauf der Zehnjahresfrist für die erstmalige Unterbringung im Jahr 2001 nicht entlassen worden war, weil diese Höchstfrist 1998 fortgefallen ist. Die Kammer stellte einstimmig sowohl eine Verletzung des Art. 5 Abs. 1 MRK (Recht auf Freiheit) als auch des Art. 7 Abs. 1 MRK (keine Strafe ohne Gesetz) fest und sprach dem Beschwerdeführe...