Leitsatz (amtlich)
Das Gebot des fairen Verfahrens (Art. 20 Abs. 3 GG i.V.m. Art. 2 Abs. 1 GG, Art. 6 Abs. 1 Satz 1 MRK) gebietet es, dass die Verwaltungsbehörde dem Verteidiger von Betroffenen oder einem von diesem beauftragten Sachverständigen nicht bei den Akten befindliche amtliche Messunterlagen zur Verfügung stellt, die erforderlich sind, um Betroffenen zu ermöglichen, die Berechtigung des auf das Ergebnis eines (standardisierten) Messverfahrens gestützten Tatvorwurfs mit Hilfe eines Sachverständigen zu überprüfen.
2. Darunter fällt regelmäßig auch die von dem betreffenden Messgerät am Messtag und Messort generierte Messreihe.
3. Die Verteidigung von Betroffenen wird jedenfalls dann unzulässig beschränkt (§§ 79 Abs. 3 Satz 1 O-WiG i.V.m. § 338 Nr. 8 StPO), wenn schon bei der Verwaltungsbehörde und danach vor dem Amtsgericht im Verfahren nach § 62 OWiG erfolglos ein auf Herausgabe dieser Unterlagen gerichteten Antrag gestellt und ein erneuter, in der Hauptverhandlung mit einem Antrag auf Aussetzung des Verfahrens (§ 228 Abs. 1 Satz 1 StPO i.V.m. § 71 Abs. 1 OWiG) verbundener Antrag auf Einsichtnahme durch Beschluss des Gerichts zurückgewiesen wurde, sofern nicht ausgeschlossen werden kann, dass das Urteil auf der rechtsfehlerhaften Ablehnung der Anträge beruht oder beruhen kann (Anschluss an OLG Karlsruhe, Beschluss v. 16.7.2019 - 1 Rb 10 Ss 291/19).)
Normenkette
GG Art. 2 Abs. 1, Art. 20 Abs. 3; OWiG §§ 62, 71 Abs. 1, § 79 Abs. 3 S. 1; StPO § 338 Nr. 8
Tenor
- Auf die Rechtsbeschwerde des Betroffenen wird das Urteil des AG E. vom 23.9.2020 mit den Feststellungen aufgehoben.
- Die Sache wird zur neuen Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsbeschwerdeverfahrens, an dieselbe Abteilung des AG zurückverwiesen.
Gründe
I.
Das AG hat gegen den Betroffenen (Betr.) auf dessen zulässigen Einspruch gegen den Bußgeldbescheid des Reg. P. K. v 2.8.2019 am 23.9 2020 wegen fahrlässigen Überschreitens der außerhalb geschlossener Ortschaft angeordneten Höchstgeschwindigkeit um mindestens 27 km/h eine Geldbuße in Höhe von 100,- € sowie ein einmonatiges Fahrverbot verhängt. Hiergegen wendet sich der Betr. mit seiner auf die Beanstandung der Verletzung förmlichen und materiellen Rechts gestützten Rechtsbeschwerde.
Die GenStA S. hat am 20.4.2021 beantragt, die Rechtsbeschwerde des Betr. als offensichtlich unbegründet zu verwerfen. Hierzu hat die Verteidigerin am 12.5.2021 eine Gegenerklärung abgegeben, in der sie an der Rechtsbeschwerde festhält.
Die originär zuständige Einzelrichterin hat die Sache mit Beschluss vom heutigen Tag zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung und zur Fortbildung des Rechts auf den Senat in der Besetzung mit 3 Richtern übertragen (§ 80a Abs. 1 und 3 Satz 1 OWiG).
II.
Nach den Feststellungen des AG befuhr der Betr. mit seinem PKW am 2.4.2019 gegen 14:26 Uhr die BAB A 7 auf Gemarkung G. aus Richtung W. kommend in Richtung K. Auf diesem zweispurig ausgebauten Streckenabschnitt war die zulässige Höchstgeschwindigkeit durch gut sichtbar aufgestellte Verkehrszeichen auf 80 km/h beschränkt. Zu diesem Zeitpunkt fand bei Streckenkilometer 817,600 durch die Polizei eine mobile Geschwindigkeitsüberwachung mit dem dort aufgestellten Geschwindigkeitsmessgerät PoliScan Speed der Firma Vitronic statt. Der Betr. passierte die Messstelle mit seinem Fahrzeug mit einer Geschwindigkeit (nach Toleranzabzug von aufgerundet 3 %) von 107 km/h.
III.
Das nach § 79 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 OWiG statthafte und auch im Übrigen zulässige Rechtsmittel hat (vorläufig) Erfolg, soweit es mit der auf die Verletzung des fair-trial-Grundsatzes gestützten Verfahrensrüge geltend macht, dem Antrag des Betr. auf Überlassung der mit seiner Messung in Zusammenhang stehenden "Messreihe" sei nicht entsprochen und damit seine Verteidigung unzulässig beschränkt worden (§ 338 Nr. 8 StPO).
Die Verfahrensrüge, mit der der Betr. eine Verletzung des Rechts auf ein faires Verfahren (Art. 6 Abs. 1 EMRK) beanstandet, greift vorliegend durch und führt zur Aufhebung der angegriffenen Entscheidung. Einer Erörterung der weiteren Verfahrens- und Sachrügen bedarf es daher nicht.
1. Der Rüge liegt folgendes Verfahrensgeschehen zugrunde:
Nach Erlass des Bußgeldbescheids gegen den Betr. beantragte seine Verteidigerin am 27.8.2019 vor der Verwaltungsbehörde u. a. die Einsicht in die digitalen Falldatensätze der gesamten Messreihe. Dies lehnte die Verwaltungsbehörde mit Schreiben v. 29.8.2019 ab und übergab die Sache am 3.9.2019 an die StA E., die sie dem AG E. vorlegte. Die Verteidigerin widersprach am 6.9.2019 gegenüber der Verwaltungsbehörde der Abgabe, da sie keine Gelegenheit zur Nutzung des Rechtsbehelfs gemäß § 62 Abs. 1 OWiG bezüglich der Weigerung der Überlassung weiterer Unterlagen erhalten habe. Nachdem am 26.9.2019 von ihr beim AG an ihren Schriftsatz erinnert worden war, fragte das AG bei der StA an, ob Einverständnis mit einer Zurückverweisung gemäß § 69 Abs. 5 OWiG bestehe, was diese bejahte. Mit Beschluss v. 2.10.2019 verwies das AG darauf ...