Leitsatz (amtlich)
Gehören sowohl der gerichtlich bestellte Sachverständige als auch der Geschäftsführer einer der Parteien oder eines Streithelfers einem aus nur wenigen Mitgliedern bestehenden Arbeitskreis eines Verbandes an, der gerade zu derjenigen Materie ins Leben gerufen wurde, die der Sachverständige im Streitfall begutachten soll, so ist diese längerfristige fachliche Verbundenheit aus Sicht der anderen Partei geeignet, Zweifel an der Unparteilichkeit des Sachverständigen zu wecken.
Normenkette
ZPO § 406
Verfahrensgang
LG Stuttgart (Beschluss vom 27.04.2022; Aktenzeichen 14 O 82/21) |
Tenor
Auf die sofortige Beschwerde der Klägerin wird der Beschluss des Landgerichts Stuttgart vom 27.04.2022, Az. 14 O 82/21, abgeändert und wie folgt neu gefasst:
Das Ablehnungsgesuch der Klägerin gegen den Sachverständigen XY wird für begründet erklärt.
Gründe
I. Die Parteien streiten in der Hauptsache um einen Kostenvorschuss zur Mangelbeseitigung sowie um Schadensersatz wegen Mängeln eines Industrieestrichbodens in Form eines Magnesia-Estrichs, der von der Streithelferin als Subunternehmerin der Beklagten in einer Produktionshalle der Klägerin eingebracht wurde.
Mit Beweisbeschluss vom 12.01.2022 wurde zu den Beweisfragen der Mangelhaftigkeit des Bodens, der erforderlichen Mangelbeseitigungsarbeiten und deren Kosten die Einholung eines Sachverständigengutachtens angeordnet. Zum Sachverständigen wurde zuletzt mit Beschluss vom 17.03.2022 XY bestellt. Dieser ist von der Industrie- und Handelskammer der Region S. öffentlich bestellter und vereidigter Sachverständiger unter anderem für kunstharz- und magnesiagebundene Industrieböden. Er ist überdies Mitglied des "Arbeitskreises Magnesia-Estrich" des Bundesverbandes Estrich und Belag e.V., der lediglich aus drei (nach dem Vortrag der Klägerseite vier) weiteren Mitgliedern besteht, zu denen auch der Geschäftsführer der Streithelferin der Beklagten ... gehört.
Mit Schriftsatz vom 22.03.2022 (Bl. 211 f. d.A.) wandte sich die Klägerin aus diesem Grund gegen die Bestellung des Sachverständigen XY durch das Landgericht und beantragte sowohl mit diesem als auch mit weiterem Schriftsatz vom 11.04.2022 (Bl. 218 f. d.A.), den Sachverständigen zu entbinden und einen anderen Sachverständigen auszuwählen. Mit letzterem Schriftsatz stellte die Klägerseite klar, dass der vorausgegangene Schriftsatz vom 22.03.2022 als Befangenheitsantrag gegen den Sachverständigen XY gelten solle.
Dieser hatte mit Schreiben vom 26.03.2022 (Bl. 213 f. d.A.) bestätigt, den Geschäftsführer der Streithelferin ... zu kennen und mit ihm "in den vergangenen Jahren gelegentlich beruflich zu tun" gehabt zu haben. Eine private Beziehung bestehe jedoch nicht und habe nie bestanden. "Gerade auf dem sehr überschaubaren Markt der Magnesiaestriche [... müsse] davon ausgegangen werden, dass sich auf der geschäftlichen Ebene die ausführenden Unternehmen inklusive deren Geschäftsführer und die hier tätigen, öffentlich bestellten und vereidigten Sachverständigen immer wieder begegnen und auf der beruflichen Ebene kennen".
Mit Beschluss vom 27.04.2022 (Bl. 225 ff. d.A.), dem Klägervertreter zugestellt am 02.05.2022 (EB Bl. 229a d.A.), erklärte das Landgericht Stuttgart den Antrag der Klägerseite auf Ablehnung des Sachverständigen XY wegen Besorgnis der Befangenheit für unbegründet. Zur Begründung führte es aus, ein Sachverständiger könne nicht mit Erfolg abgelehnt werden, weil er rein beruflichen Kontakt zu einer Partei gehabt habe. Im vorliegenden Fall lägen bei der vorzunehmenden Gesamtbetrachtung trotz der Mitgliedschaft sowohl des Sachverständigen als auch des Geschäftsführers der Streithelferin im "Arbeitskreis Magnesia-Estrich" keine ausreichenden Umstände vor, die vom Standpunkt der Klägerin aus bei vernünftiger Betrachtung die Befürchtung wecken könnten, der Sachverständige stehe der Sache nicht unvoreingenommen gegenüber. Es fehle an einer engen fachlichen oder persönlichen Beziehung.
Mit Schriftsatz vom 16.05.2022 (Bl. 235 ff. d.A.), beim Landgericht eingegangen am selben Tag, legte die Klägerseite gegen den landgerichtlichen Beschluss sofortige Beschwerde ein und beantragte, "unter Abänderung des angefochtenen Beschlusses das Ablehnungsgesuch gegen den Sachverständigen Herrn XY wegen der Besorgnis der Befangenheit für begründet zu erklären". Zur Begründung wies sie unter anderem darauf hin, dass der "Arbeitskreis Magnesia-Estrich" nur aus fünf Mitgliedern bestehe, die schon deshalb zwangsläufig nicht nur eine enge geschäftliche Verbindung zueinander hätten, sondern auch persönlich miteinander verbunden seien. Die Gegenseite sowie die Streithelferin und der Sachverständige (Bl. 254 f. d.A.) nahmen hierzu jeweils Stellung.
Das Landgericht half der sofortigen Beschwerde nicht ab und legte die Sache mit Beschluss vom 07.06.2022 (Bl. 256 f. d.A.) dem zuständigen Oberlandesgericht Stuttgart zur Entscheidung vor. Zur Begründung führte es aus, eine die Besorgnis der Befangenheit begründende persönliche Nähe zwischen dem Sachvers...