Entscheidungsstichwort (Thema)
Beschränkungsanordnungen in der Haft. Verdunkelungsgefahr. Näheverhältnis
Leitsatz (amtlich)
Verdunkelungsgefahr im Sinne des weit auszulegenden § 119 Abs. 1 S. 1 StPO besteht in Fällen schwererer Kriminalität schon dann, wenn kein Geständnis vorliegt und ein Näheverhältnis zwischen dem Untersuchungsgefangenen und einem Tatbeteiligten oder zwischen ihm und einer Beweisperson besteht, etwa weil Familienangehörige, Verwandte, Freunde oder Bekannte in die Tat involviert sind oder ihnen innerhalb der Beweisführung eine nicht unbedeutende Rolle zukommen kann. In diesen Fällen liegt nach allgemeiner Erfahrung die Gefahr einer die Wahrheitsermittlung erschwerenden Beeinflussung auf der Hand. Beruht das angefochtene Urteil nicht auf einem Geständnis, sodass im Falle einer Urteilsaufhebung Feststellungen nur unter erneuter Heranziehung der Beweismittel getroffen werden können, besteht Verdunkelungsgefahr bei unkontrolliertem Informationsaustausch regelmäßig fort. Daran ändert die Möglichkeit, Inhalte von Zeugenaussagen durch mittelbare Zeugen einzuführen, nichts. Bei der Verhältnismäßigkeitsprüfung angeordneter Beschränkungen ist zu beachten, dass der Sicherstellung der Aburteilung von Straftätern als Teil des Rechtsstaatsprinzips Verfassungsrang zukommt.
Normenkette
StPO § 119 Abs. 1 S. 1
Verfahrensgang
LG Rottweil (Entscheidung vom 10.01.2024; Aktenzeichen 1 Ks 17 Js 1880/23) |
Tenor
Die Beschwerde der Angeklagten gegen den Beschluss des Landgerichts Rottweil vom 10. Januar 2024 wird als unbegründet verworfen.
Die Beschwerdeführerin trägt die Kosten ihres Rechtsmittels.
Gründe
I.
Die Angeklagte, die am 11. Dezember 2023 wegen Totschlags zu einer Freiheitsstrafe von sieben Jahren verurteilt wurde und über deren Revision noch nicht entschieden ist, befindet sich seit März 2023 in Untersuchungshaft. Ausweislich der erstinstanzlichen Urteilsgründe hat die Angeklagte in ihrer polizeilichen Vernehmung sowie in der Hauptverhandlung den Tatvorwurf bestritten, sich auf alkoholbedingte Erinnerungslücken berufen und behauptet, das Opfer habe Selbstmord begangen; nach der Tat hat sie (Blut-)Spuren beseitigt und mehrere Sprachnachrichten an ihr nahestehende Personen und Angehörige, u.a. über die Selbsttötung des Opfers und ihre Wiederbelebungsversuche, versandt.
Am 3. März 2023 hat das Amtsgericht Rottweil ausgehend vom Haftgrund der Fluchtgefahr nach § 112 Abs. 2 Nr. 2 StPO Haftbefehl wegen Totschlags erlassen und für den Vollzug der Untersuchungshaft Beschränkungen nach § 119 Abs. 1 StPO, u.a. die Überwachung des Schriftverkehrs und von Besuchen, angeordnet. Mit Beschluss vom 10. Januar 2024 hat der Vorsitzende des Schwurgerichts den Antrag der Angeklagten auf Aufhebung dieser Beschränkungen abgelehnt. Ihre hiergegen gerichtete Beschwerde bleibt ohne Erfolg.
II.
Der Vorsitzende der Schwurgerichtskammer, der nach § 126 Abs. 2 S. 2 und 3 StPO während des Revisionsverfahrens für Entscheidungen über Maßnahmen nach § 119 StPO zuständig bleibt (KK-StPO/Gericke, 9. Aufl., § 126 Rn. 11, 12), hat die Aufhebung der Haftbeschränkungen zu Recht abgelehnt. Diese sind weiterhin erforderlich und verhältnismäßig.
1. Beschränkende Anordnungen nach § 119 Abs. 1 StPO sind zulässig, wenn aufgrund konkreter Anhaltspunkte eine reale Gefahr für die gesetzlichen Haftzwecke besteht, die nicht anders abgewehrt werden kann (BVerfG, NStZ-RR 2015, 79; OLG Stuttgart, BeckRS 2022, 2423). Für diese Beurteilung sind nicht nur Haftgründe zu berücksichtigen, auf die der Haftbefehl gestützt ist. Herangezogen werden können auch in den Haftbefehl nicht aufgenommene Haftgründe (OLG Stuttgart aaO). Insbesondere sind Beschränkungsanordnungen zur Vermeidung der Verdunkelungsgefahr zulässig, auch wenn der Haftbefehl nur den Haftgrund der Fluchtgefahr enthält (KG, StV 2010, 370; OLG Celle, NStZ-RR 2010, 159; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 66. Aufl., § 119 Rn. 5).
Da bei der Anwendung des § 119 Abs. 1 StPO dem Umstand Rechnung zu tragen ist, dass ein Untersuchungsgefangener noch nicht rechtskräftig verurteilt ist und deshalb nur unvermeidlichen Einschränkungen seiner Grundrechte unterworfen werden darf, genügt die bloße, rein theoretische Möglichkeit, dass er seine Freiheiten missbrauchen könnte, nicht. Vielmehr bedarf es einer einzelfallbezogenen Prüfung, ob konkrete Anhaltspunkte für eine Gefährdung der in § 119 Abs. 1 StPO bezeichneten öffentlichen Interessen bestehen (BVerfG aaO; KG, NStZ-RR 2014, 377 und BeckRS 2022, 38740 jew. mwN).
Solche Anhaltspunkte erfordern aber weder schon begangene Vertuschungs- oder Verdunkelungshandlungen (OLG Frankfurt a. M., BeckRS 2024, 2765; 2023, 34377; BeckOK-StPO/Krauß, Stand: 1.1.2024, § 119 Rn. 12) noch Hinweise auf konkrete Vorhaben des Gefangenen (KK-StPO/Gericke, 9. Aufl., § 119 Rn. 10). Vielmehr können zur Beurteilung der einem Haftzweck zuwiderlaufenden Gefahr etwa das Vortat-, Tat- und Nachtatverhalten, sonstige Umstände der Tatbegehung, die persönlichen Verhältnisse des Angeklagten und die Art der ihm zur ...