Leitsatz (amtlich)
Rechtspflege und Gerichtsverfahrensrecht Wirtschaftsrecht Sperrwirkung für zweites Musterverfahren Hat ein anhängiges Musterverfahren Feststellungsziele zum Gegenstand, die anspruchsbegründende oder -ausschließende Voraussetzungen von Schadensersatzansprüchen gegen ein Tochterunternehmen wegen fehlerhafter oder unterlassener Ad-hoc-Mitteilungen über Vorgänge im Bereich dieses Tochterunternehmens oder hierauf bezogene Rechtsfragen betreffen, so ist die Einleitung eines weiteren Musterverfahrens gegen das Mutterunternehmen betreffend Schadensersatzansprüche wegen fehlerhafter oder unterlassener Ad-hoc-Mitteilungen über dieselben Vorgänge im Bereich des Tochterunternehmens nach § 7 Satz 1 KapMuG unzulässig, weil die Entscheidung über die Ausgangsrechtsstreite gegen das Mutterunternehmen von der Entscheidung über die Feststellungsziele des ersten gegen das Tochterunternehmen gerichteten Musterverfahrens abhängt (§ 8 Abs. 1 KapMuG) und insoweit wenigstens teilweise der identische Lebens-sachverhalt zugrunde liegt.
Normenkette
KapMuG §§ 7-8
Verfahrensgang
LG Stuttgart (Beschluss vom 28.02.2017; Aktenzeichen 22 AR 1/17 Kap) |
Nachgehend
Tenor
1. Es wird festgestellt, dass das mit Vorlagebeschluss des Landgerichts Stuttgart vom 28.2.2017 (22 AR 1/17 Kap) vorgelegte Musterverfahren unzulässig ist.
2. Die Bestimmung eines Musterklägers gem. § 9 Abs. 2 KapMuG wird abgelehnt.
3. Die Rechtsbeschwerde wird in Bezug auf Ziff. 1. und 2. zugelassen.
4. Die Anträge der Klägerin des vom Landgericht Stuttgart unter Az. 22 O 288/16 ausgesetzten Rechtsstreits
a) auf Vorlage an den Bundesgerichtshof zur Bestimmung des für die Entscheidung über die Feststellungsziele des Vorlagebeschlusses des Landgerichts Stuttgart vom 28.2.2017 in einem Musterverfahren zuständigen Oberlandesgerichts sowie
b) auf Durchführung eines Musterverfahrens i.S.d. §§ 9 ff. KapMuG aufgrund des Vorlagebeschlusses des LG Stuttgart vom 28.2.2017 sowie hilfsweise hierzu auf Feststellung, dass das vorliegende Verfahren ein Musterverfahren i.S.d. §§ 9 ff. KapMuG sei,
werden zurückgewiesen.
Gründe
I. Die Kläger der insbesondere vor dem Landgericht Stuttgart geführten und von diesem im Hinblick auf den Vorlagebeschluss vom 28.2.2017, Az. 22 AR 1/17 Kap (Beiakte Bl. 1 ff., veröffentlicht im Klageregister und in Juris; nachfolgend kurz: VB) teilweise ausgesetzten Ausgangsverfahren machen insbesondere gegen die Musterbeklagte zu 1 Schadensersatzansprüche wegen unterlassener Ad-hoc-Mitteilungen in Ansehung der Abgassteuerung in Dieselmotoren der Volkswagengruppe geltend.
Die als Aktiengesellschaft börsennotierte Musterbeklagte zu 2 ist ein großer Automobilhersteller mit Sitz in Wolfsburg. Sie ist erst seit September 2018 Musterbeklagte des vorliegenden Musterverfahrens (s.u. 3.).
1. Die Musterbeklagte zu 1 wurde im Juni 2007 in eine Aktiengesellschaft europäischen Rechts umgewandelt. Ihr operatives Geschäft (Produktion von Sportwagen) gliederte sie aus, weshalb es sich nunmehr um eine reine Holdinggesellschaft handelt. Sie ist mit rund 52 % der Stimmrechte an der Musterbeklagten zu 2 beteiligt. Die Beteiligung an der Musterbeklagten zu 2 stellt das wesentliche substantielle Investment der Musterbeklagten zu 1 dar.
Im Jahr 2007 stellte die Musterbeklagte zu 2 eine neue Baureihe von Dieselmotoren unter der Bezeichnung EA 189 vor, die sie ab dem Jahr 2008 baute und auch in den USA vermarktete. Diese Motorentypen, die in etwa 11 Mio. Fahrzeugen verbaut wurden, waren - so die Darstellung VB Rn. 8 - mit Hilfe einer Abschalteinrichtung ("Defeat Device") dergestalt manipuliert worden, dass sie vortäuschten, die emissionsrechtlichen Normen einzuhalten. Dies hatte zur Folge, dass die Motoren die vorgeschriebenen Emissionsgrenzwerte zwar auf dem Prüfstand, nicht aber im Normalbetrieb auf der Straße einhielten.
Am 9.4.2009 wurde der erste Motor der Baureihe EA 189 als Vierzylindermotor mit 2.0-Liter-Hubraum entsprechend den von der amerikanischen Umweltbehörde (United States Environment Protection Agency, im Folgenden: EPA) vorgeschriebenen US-Abgasnormen zugelassen.
Im August 2009 schlossen die Musterbeklagte zu 1 und die Musterbeklagte zu 2 eine sog. Grundlagenvereinbarung zur Schaffung eines integrierten Automobilkonzerns mit der Porsche AG. Mit Wirkung vom 25.11.2009 traten der damalige Vorstandsvorsitzende der Musterbeklagten zu 2 X, und der Finanzvorstand der Musterbeklagten zu 2, Herr Y, auch in den Vorstand der Musterbeklagten zu 1 ein, wo sie dieselben Geschäftsbereiche wie bei der Musterbeklagten zu 2 übernahmen.
Im Mai 2014 stellten Wissenschaftler der West Virginia University im Rahmen einer von der Forschungsorganisation International Council on Clean Transportation (im Folgenden: ICCT) beauftragten Studie (im Folgenden: ICCT-Studie) bei drei Testfahrzeugen mit dem zertifizierten Motortyp EA 189 wesentlich erhöhte Emissionswerte im realen Fahrbetrieb fest. Im selben Monat nahmen die kalifornische Umweltbehö...