Leitsatz (amtlich)
§ 12 Abs. 3 VVG a.F. kann keine Verkürzung der Beschwerdefrist im PKH-Bewilligungsverfahren (§ 127 Abs. 2 S. 3 ZPO) zu Lasten der bedürftigen Partei entnommen werden (Abweichung von OLG Nürnberg, Urt. 18.1.2010 - 8 U 791/09 und OLG Celle, VersR 2006, 101).
Normenkette
VVG a.F. § 12 Abs. 3; ZPO § 127 Abs. 2 S. 3
Verfahrensgang
LG Stuttgart (Urteil vom 22.09.2009; Aktenzeichen 16 O 193/07) |
BGH (Aktenzeichen IV ZR 143/10) |
Nachgehend
Tenor
Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des LG Stuttgart - 16 O 193/07 - vom 22.9.2009 wird zurückgewiesen.
Auf die Anschlussberufung der Klägerin wird das Urteil des LG Stuttgart - 16 O 193/07 - vom 22.9.2009 teilweise abgeändert:
Es wird festgestellt, dass die Investment-Berufsunfähigkeitsversicherung vom 21.3.2002 bei der Beklagten mit der Versicherungsschein-Nr. L 200766296 012 im Nürnberger Tarif IBU2100*F mit Versicherungsbeginn zum 1.4.2002 und Ablauf der Versicherung zum 1.4.2026 fortbesteht.
Die Beklagte trägt die Kosten der Berufung.
Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung von 120 % des aus dem Urteil vollstreckbaren Betrages abwenden, wenn nicht die Klägerin vor der Vollstreckung Sicherheit i.H.v. 120 % des jeweils zu vollstreckenden Betrages leistet.
Die Revision wird zugelassen.
Berufungsstreitwert: bis 110.000 EUR
Gründe
I. Die Beklagte wendet sich mit ihrer Berufung gegen das Urteil des LG Stuttgart, mit dem sie zur Zahlung von monatlichen 1.087,67 EUR bis 1.4.2026 aus der zwischen den Parteien bestehenden Berufsunfähigkeitsversicherung verurteilt und die Freistellung der Klägerin von der Beitragszahlungspflicht festgestellt wurde. Die Klägerin begehrt mit der Anschlussberufung die zusätzliche Feststellung, dass die zwischen den Parteien abgeschlossene Berufsunfähigkeitsversicherung fortbesteht und nicht wegen behaupteten Rücktritts weggefallen ist.
Die Parteien streiten um die Versicherungsleistung aus einer Berufsunfähigkeitsversicherung (Anlage K 1).
Die Klägerin schloss mit Wirkung vom 1.4.2002 unter Vermittlung der Zeugen M. bei der Beklagten eine Berufsunfähigkeitsversicherung. Darin verpflichtet sich die Beklagte, bei Eintritt des Versicherungsfalles der Klägerin monatlich 1.087,67 EUR zu bezahlen und sie von der Beitragszahlungspflicht zu befreien. Die Versicherung endet zum 1.4.2026. Die am 5.2.2002 im Zusammenhang mit dem Vertragsschluss der Klägerin gestellten Fragen nach gesundheitlichen Beeinträchtigungen beantwortete diese durchgehend mit "nein" bzw. gab bei Arztbesuchen "Routine ohne Befund" an (Anlage K 10; nach Bl. 16 und Bl. 127).
Die Klägerin zeigte mit Schreiben vom 23.1.2004 ihre Berufsunfähigkeit bei der Beklagten an. Diese lehnte in mehreren Schreiben die Leistungserbringung aus dem Versicherungsvertrag ab und erklärte mehrfach den Rücktritt. Die erste Rücktrittserklärung vom 30.4.2004 (Anlage B 3, nach Bl. 39) nahm die Beklagte zunächst zurück. Mit Schreiben vom 12.4.2006 trat die Beklagte erneut gem. § 16 VVG a.F. zurück und belehrte nach § 12 Abs. 3 VVG a.F. über die gerichtliche Geltendmachung der Versicherungsleistung binnen sechs Monaten (Anlage B 6; nach Bl. 39). Letztmalig verlängerte die Beklagte mit Schreiben vom 5.4.2007 die Klagefrist bis zum 30.4.2007 (Anlage B 10; nach Bl. 39).
Die Klägerin war bis 1994 in ihrem erlernten Beruf als Erzieherin beschäftigt. Im Anschluss daran bekam sie drei Kinder und befand sich in Elternzeit. Währenddessen war sie nur als "Springer" jeweils kurzzeitig in ihrem Beruf tätig. Nach Ende der letzten Erziehungszeit im März 2002 meldete sich die Klägerin arbeitssuchend. Seit Mai 2008 ist sie mit zehn Wochenarbeitsstunden als Erzieherin teilzeitbeschäftigt.
Die Klägerin hat vorgetragen, sie leide seit März 2003 an Depression, Panikstörung und sozialer Phobie. In Stresssituationen erlebe sie oftmals totale Blackouts. Auch träten starke Konzentrationsprobleme auf. Den Geräuschpegel im Kindergarten könne sie nur für kurze Zeit ertragen. Schon morgens sei sie müde und deprimiert. Sie sei nicht mehr in der Lage, auch nur halbschichtig in ihrem angestammten Beruf zu arbeiten. Eine Vergleichstätigkeit komme nicht in Betracht.
Sie habe die vorvertragliche Anzeigepflicht nicht verletzt. Eine Mutter-Kind-Kur sei wegen des Sohnes in Anspruch genommen worden; sie habe zu dieser Zeit lediglich allgemeine Erschöpfung, familiäre Belastung und vereinzelte Rückenschmerzen als eigene Leiden verspürt. Sie habe vor Antragstellung auch noch nicht an Depressionen gelitten. Dem Ehepaar M. habe sie mitgeteilt, dass sie wegen einer schwierigen Ehesituation manchmal Kopfweh und leichte körperliche Beschwerden habe. Dies, ebenso wie die Mutter-Kind-Kur, sei vom Ehepaar M. als nicht relevant eingestuft worden. Das Attest vom 1.3.2002 sei der Klägerin bei Antragsstellung noch nicht bekannt gewesen (Anlage K 14; Bl. 60). Durch die Rücknahme des ersten Rücktritts habe die Beklagte zudem auf Rechte verzich...