Verfahrensgang
LG Stuttgart (Entscheidung vom 12.03.1998; Aktenzeichen 12 O 210/97) |
Tenor
I. Auf die Berufung des Klägers wird das Urteil des Landgerichts Stuttgart vom 12.03.1998 - Az.: 12 O 210/97 - wie folgt abgeändert:
Der Beklagte wird verurteilt, an den Kläger ein Schmerzensgeld in Höhe von 15.000,- DM zu bezahlen nebst 4 % Zinsen hieraus seit dem 06.06.1997.
Im übrigen wird die Klage abgewiesen.
II. Die weitergehende Berufung des Klägers zurückgewiesen.
III. Die Kosten des Rechtsstreits beider Rechtszüge tragen der Kläger zu ¼ und der Beklagte zu 3/4.
IV. Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.
Streitwert der Berufung: 20.000,- DM.
Tatbestand
Von der Darstellung des Tatbestands wurde abgesehen (§ 543 Abs. 1 ZPO).
Entscheidungsgründe
Die zulässige Berufung ist überwiegend begründet. Der Kläger hat gemäß §§ 823, 847 BGB Anspruch auf Zahlung eines Schmerzensgeldes in Höhe von 15.000,- DM, denn die bei der operativen Entfernung des Zahnes 38 eingetretene Durchtrennung des Nervus lingualis links folgt aus einer zumindest leicht fahrlässigen Verletzung der nach zahnmedizinischen Erkenntnissen für solche Eingriffe zu fordernden besonderen Sorgfalt.
Der Senat geht allerdings mit dem Landgericht davon aus, daß allein die Tatsache der Schädigung des Nervus lingualis den Schluß auf ein kunstfehlerhaftes Verhalten des behandelnden Arztes nicht rechtfertigen kann. Diese Aussage entspricht der Darstellung in der zahnmedizinischen Literatur, in der - worauf alle Sachverständigen übereinstimmend hingewiesen haben - für den hier vorliegenden Fall der operativen Entfernung eines (teil-) retinierten unteren Weisheitszahnes eine ganze Reihe von zumeist indirekten Schädigungsmechanismen beschrieben sind, die auch bei Beachtung größtmöglicher Sorgfalt nicht sicher vermieden werden können (vgl. hierzu den Aufsatz von Prof. Gaisbauer, zur Haftung des Zahnarztes für Nervenläsionen, VersR 1995, Seite 12 ff. mit entsprechenden Nachweisen).
Abweichend von den meisten in diesem Zusammenhang diskutierten Fällen ist aber vorliegend nicht nur der Funktionsausfall des Nervus lingualis als solcher bekannt, sondern - in Folge des nur wenige Tage nach Entfernung des Weisheitszahnes 38 in der Klinik für Kiefer- und Gesichtschirurgie der Universität T. durchgeführten Revisionseingriffes - im Wesentlichen auch die Art seiner Schädigung. Oberarzt Dr. Dr. C., der den Revisionseingriff durchgeführt hat, beschreibt in seinem OP-Bericht gegenüber der Alveole 38 einen auf eine Strecke von nahezu 1 cm zerfetzten Nervenstamm und weist in der Stellungnahme an die Versicherung des Beklagten vom 03.02.1997 besonders darauf hin, daß der Verletzungstyp (Zerfetzung) für eine Traumatisierung mit einem rotierenden Instrument spricht.
Diesen Sachverhalt legt der Senat seine Entscheidung zugrunde, wobei offenbleiben kann, ob der Schaden bei der Ostektomie mit dem Rosenbohrer oder aber bei der Zerlegung des Zahnes mit der Lindemann-Fräse eingetreten ist. Wesentlich ist die Beschreibung des Schadensbildes, die von den Parteien nicht angegriffen wird, und die nicht nur von den nachbehandelnden Ärzten, sondern - für den Senat überzeugend - auch vom gerichtlichen Sachverständigen eindeutig dahin interpretiert wurde, daß der Nerv im Zuge des operativen Vorgehens primär durch ein rotierendes Instrument geschädigt worden ist.
Diese Feststellung erlaubt nach den Grundsätzen über den Beweis des ersten Anscheins, die auch auf dem Gebiet der ärztlichen Haftpflicht anwendbar sind, den Schluß auf einen schuldhaften Behandlungsfehler des Beklagten. Der beschriebene Schaden wird nach der für den Senat ohne weiteres einsichtigen Darstellung des Sachverständigen Dr. P. bei regelrechten Verhältnissen typischerweise dadurch verursacht, daß der Operateur mit seinem Instrument unbeabsichtigt das eigentliche Operationsgebiet im Knochen verläßt und in das linguale Weichgewebe im Mundboden eindringt. Diese Möglichkeit, die auch der erstinstanzliche Gutachter Dr. Dr. S. in den Vordergrund gerückt hat (Seite 10 des schriftlichen Gutachtens vom 16.10.1998), hat auch der Beklagte in der mündlichen Verhandlung vor dem Senat am 13.10.1998 als realistisch angesehen.
Entgegen der Einschätzung des Beklagten und des erstinstanzlich gehörten Sachverständigen Dr. Dr. S. ist eine auf solche Weise herbeigeführte Verletzung des Nervus lingualis aber keineswegs unvermeidbar. Sie spricht vielmehr regelmäßig für ein Verschulden des Operateurs im Sinne einer Vernachlässigung der nach den zahnmedizinischen Grundsätzen gerade im Hinblick auf die Gefahr einer Nervschädigung zu fordernden besonderen Sorgfalt (vgl. hierzu Prof. Gaisbauer, a.a.O., zu B II. 2. b und VI sowie OLG Karlsruhe, Urteil vom 16.10.1985, AHRS 4800/4; die Entscheidung des OLG München vom 23.06.1994, VersR 95, 464 steht dieser Beurteilung nicht entgegen, weil nach dem dort zu beurteilenden Sachverhalt von einem atypischen Verlauf des Nervus lingualis direkt in der Knochenhaut auszugehen war). Der Sachverständige Dr. P. hat in seinem schriftliche...