Leitsatz (amtlich)

1. a) Ein Umstand ist dann i.S.d. § 13 Abs. 1 Satz 1 WpHG hinreichend wahrscheinlich, wenn ein verständiger, nicht spekulativ handelnder Anleger ihn auf verlässlicher Informationsgrundlage ihm Rahmen seiner Investitionsentscheidung berücksichtigt hätte.

b) Die Beschlussfassung des Aufsichtrats in einer Angelegenheit, die in seine originäre Zuständigkeit fällt, ist in diesem Sinne schon vor der Beschlussfassung hinreichend wahrscheinlich, wenn die Entscheidung definitiv vorabgestimmt ist (Anschluss BGH, Beschl. v. 25.2.2008 - II ZB 9/07).

2. a) Für den Aufschub der Veröffentlichung einer Insiderinformation nach § 15 Abs. 3 WpHG bedarf es keiner bewussten Entscheidung des Emittenten.

b) Selbst wenn eine bewusste Entscheidung erforderlich wäre, der Emittent eine solche aber nicht getroffen hätte, würde bei Vorliegen der Voraussetzungen für diesen Befreiungstatbestand gleichwohl eine Haftung wegen nicht unverzüglicher Veröffentlichung der Insiderinformation entfallen, weil der Emittent auch bei bewusster Entscheidung für die Selbstbefreiung die Information nicht früher veröffentlicht hätte (rechtmäßiges Alternativverhalten).

 

Normenkette

WpHG § 13 Abs. 1, § 15 Abs. 1, 3-4, § 37b; WpAIV § 7

 

Nachgehend

BGH (Beschluss vom 22.11.2010; Aktenzeichen II ZB 7/09)

 

Tenor

1. Es wird festgestellt, dass in der Zeit vom 17.5.2005 bis zur Beschlussfassung des Aufsichtsrats der Musterbeklagten am 28.7.2005 keine Insiderinformation des Inhalts entstanden ist, dass A. ggü. dem Aufsichtsratsvorsitzenden die einseitige Amtsniederlegung erklärt hat.

2. Es wird festgestellt, dass am 27.7.2005 nach 17.00 Uhr mit der Beschlussfassung des Präsidialausschusses des Aufsichtsrats der Musterbeklagten eine Insiderinformation entstanden ist, dass der Aufsichtsrat in seiner Sitzung am 28.7.2005 über den Vorschlag des Präsidialausschusses beschließen wird, der vorzeitigen Aufhebung der Bestellung von A. zum Vorstandsvorsitzenden zum 31.12.2005 zuzustimmen.

3. Es wird festgestellt, dass die Musterbeklagte von der Pflicht zur unverzüglichen Veröffentlichung dieser Information nicht bis zur Beschlussfassung durch den Aufsichtsrat am 28.7.2005 gem. § 15 Abs. 3 WpHG befreit war.

a) Die Musterbeklagte wäre von der Pflicht zur Veröffentlichung bis zur Entscheidung des Aufsichtsrats am 28.7.2005 nach § 15 Abs. 3 WpHG bei Vorliegen der dort geregelten Voraussetzungen kraft Gesetzes und unabhängig von einer bewussten Entscheidung über diesen Aufschub befreit gewesen.

b) Es wäre für den berechtigten Aufschub nicht darauf angekommen, ob die Gründe für diese Befreiung an die Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht (BaFin) mitgeteilt worden sind.

c) Die Voraussetzungen für den Aufschub waren nur teilweise gegeben.

aa) Der Schutz der berechtigten Interessen der Musterbeklagten erforderte den Aufschub der Veröffentlichung.

bb) Eine Irreführung der Öffentlichkeit durch den Aufschub war nicht zu besorgen.

cc) Die Vertraulichkeit der Insiderinformation war nicht gewährleistet, weil die Musterbeklagte ein Aufsichtsratsmitglied nicht ausreichend über die insiderrechtlichen Pflichten und Sanktionen aufgeklärt hat.

4. Es wird festgestellt, dass die Musterbeklagte auch bei Erforderlichkeit einer bewussten Entscheidung über den Aufschub nach § 15 Abs. 3 WpHG und trotz der fehlenden Belehrung des Aufsichtsratsmitglieds nicht nach § 37b WpHG auf Schadensersatz wegen Unterlassens einer unverzüglichen Veröffentlichung der unter 2. genannten Insiderinformation haftet, weil sie sich darauf berufen kann, dass der geltend gemachte Schaden gleichermaßen eingetreten wäre, wenn sie eine bewusste Entscheidung über den Aufschub getroffen sowie das mit den Insiderregeln hinreichend vertraute Aufsichtsratsmitglied noch einmal belehrt und damit rechtmäßig gehandelt hätte.

5. Von den Kosten des vor dem BGH geführten Rechtsbeschwerdeverfahrens, Az. II ZB 9/07, tragen der Musterkläger 9 % und der beigetretene Beigeladene B. 91 %.

 

Gründe

A.I. Der Musterkläger begehrt aus abgetretenem Recht seines Vaters von der börsennotierten Musterbeklagten Schadensersatz wegen angeblich verspäteter Ad-hoc-Mitteilung im Jahr 2005 über das vorzeitige Ausscheiden ihres damaligen Vorstandsvorsitzenden A. Im Hinblick auf das Musterverfahren sind weitere beim AG Stuttgart und LG Stuttgart anhängige Klagen von Anlegern gegen die Musterbeklagte auf Schadensersatz aus demselben Grund von zusammen ca. 5,5 Mio. EUR ausgesetzt.

II.1. Der Aufsichtsrat der Musterbeklagten beschloss in der Sitzung vom 28.7.2005 gegen 9.50 Uhr, dass der damalige Vorstandsvorsitzende A. zum 31.12.2005 aus dem Amt ausscheiden und das Vorstandsmitglied C. neuer Vorstandsvorsitzender werden solle.

Eine entsprechende Ad-hoc-Mitteilung versandte die Musterbeklagte den Geschäftsführungen der Börsen und der Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht (BaFin) vorab um 10.02 Uhr. Um 10.32 Uhr wurde die Ad-hoc-Mitteilung in der Meldungsdatenbank der DGAP (Deutsche Gesellschaft für Ad-hoc-Publizität) veröffentlicht.

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